Fotos wie Karten lesen

Mit einer neuen Software kann man Fotos mit digitalen Kartendaten verknüpfen. So lassen sich geografische Informationen extrahieren, was historische Fotos wertvoller für die Forschung macht. Von Roland Fischer

​Man kennt das Phänomen aus eigener Erfahrung: Eine Landschaft sieht ganz anders aus, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet. Was den Wanderer für einen kurzen Moment verwirren mag, ist für den Geografen, der Karten erstellt, ein schwieriges methodisches Problem. Ein wichtiges Hilfsmittel sind Fotos – seit den Anfängen der Fotografie wurde die Technik genutzt, um Landschaften geografisch abzubilden. Doch ist es von entscheidender Bedeutung, die Aufnahmen exakt zu referenzieren, also in einen vorhandenen Raster einzupassen. Voraussetzung dafür war bislang das Vorliegen von Stereoaufnahmen aus zwei verschiedenen Blickwinkeln, damit die räumlichen Informationen auswertbar sind. Für heutige Geografen bedeutet das allerdings, dass ein reicher Archivschatz einfacher Landschaftsfotos nicht nutzbar ist, was georeferenzierte Informationen angeht – diese Aufnahmen lassen sich kaum sinnvoll in Kartendaten übersetzen. So lag bisher eine grosse Datenmenge brach, die historische Veränderungen in der Landschaft hätte aufzeigen können.

Mathematisches Modell

Eine Arbeitsgruppe um Claudio Bozzini von der Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Bellinzona hat nun eine Software entwickelt, die das Kunststück fertigbringt, Landschaftsfotos so zu georeferenzieren, dass man sie in Kartendaten übersetzen kann. Auf dem Foto werden dazu auffällige Referenzpunkte gesucht, die mit den entsprechenden digitalen Koordinaten verknüpft werden. Anhand dieser Punkte errechnet der Computer Standpunkt und Orientierung der Kamera und produziert ein mathematisches Modell der Aufnahmeparameter (Kameraart und -einstellungen). Anschliessend werden viele weitere Punkte der Fotografie mit digitalen Koordinaten versehen, das Bild wird gewissermassen auf das Computerkartenmodell aufgezogen. Nun ist es ein Leichtes, die auf dem Foto sichtbaren geografischen Informationen wie Waldgrenzen, Bachläufe oder Wege auf die Karte zu übertragen. Auch Veränderungen in der Vegetation und der Kultivierung des Bodens sind so leicht auswertbar.

Anwendungen für die Technik gibt es viele. Gletscherrückgänge können einfacher und exakter als bisher aus alten Fotos und Postkarten rekonstruiert werden. Sehr wichtig können alte Aufnahmen auch bei der Vorbeugung von Naturkatastrophen sein: Historische Dokumente von Erdrutschen oder Lawinen geben Hinweise auf Gefahrenzonen.

Die Referenzierungssoftware kann nicht nur von Projekten mit historischem Bezug genutzt werden. Derzeit wird untersucht, ob sie auch für eine aktuelle Forschungsarbeit über Gletscherwasserabflüsse anwendbar ist. Um Veränderungen der Wassermenge im Tagesverlauf zu bestimmen, reicht es dank der Software, regelmässig Fotos der Abflüsse zu machen und anschliessend mittels der digitalen Daten die Wasseroberfläche genau zu vermessen. Daraus dürfte sich die Menge des abfliessenden Wassers errechnen lassen.

(Aus "Horizonte" 96, März 2013)