Die Kunst der Vermutung

Ein Beruf hat Konjunktur: der Statistiker, die Statistikerin. Auf sie warten unermessliche Datenmengen, die intelligent ausgewertet werden sollen. Doch im deutschen Sprachraum gilt die Statistik noch immer als notwendiges Übel. Von Valentin Amrhein

"Der sexy Job der nächsten zehn Jahre wird Statistiker sein." So sprach im Jahr 2008 Hal Varian, Professor für Informationstechnologie und Chefökonom von Google. Wir stehen in der Tat vor einem unvorstellbar grossen Datenberg. Die amerikanische Library of Congress speichert alle öffentlich verbreiteten Twitter-Nachrichten als Grundlage für Studien des menschlichen Sozialverhaltens. Der Datensatz beträgt zurzeit angeblich 170 Milliarden Tweets.

National Security Agency, Google, Migros und Coop: Für sie alle waren Informationen noch nie so leicht zu bekommen. Denn wir legen bereitwillig unsere Kundenkarten vor und lassen unsere Smartphones kommunizieren. Und das automatisierte Speichern von Daten wird immer billiger. Auch in den Laboren der Forschenden gilt: Die Kunst ist nicht mehr, Daten zu bekommen, sondern die richtigen Daten zu sammeln, sie richtig zu sammeln, eine sinnvolle Auswertung zu machen und die Resultate zuverlässig zu interpretieren und verständlich darzustellen. All dies ist Aufgabe und Kompetenz von Statistikerinnen und Statistikern. Die Unternehmensberatung McKinsey schätzt, dass allein in den USA bis zum Jahr 2018 fast 200 000 statistisch ausgebildete Fachleute fehlen werden.

"Leider sehen viele Leute in der Statistik eher ein notwendiges Übel als ein geniales Werkzeug", sagt Beat Hulliger, Professor für Wirtschafts- und Sozialforschung an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Im deutschen Sprachraum hätten die Menschen offenbar Mühe, mit Phänomenen umzugehen, bei denen Unsicherheit und Wahrscheinlichkeit im Vordergrund stünden. Dabei sind Menschen eigentlich wandelnde Vorhersagemaschinen: Wir müssen abschätzen, wann das Wasser kocht, wie viel Zeit wir für den Einkauf brauchen und ob unsere Kunden das Produkt noch mögen, wenn es etwas teurer ist. Bei all diesen Entscheidungen bringen wir Daten über unser theoretisches Wissen, unsere praktische Erfahrung und die aktuellen Umstände zusammen, um daraus eine Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen eines Sachverhalts abzuleiten. Und das ist ein statistischer Prozess. "In den Vereinigten Staaten ist zum Beispiel Business Analytics das grosse Thema, also die Auswertung der Geschäftsdaten eines Unternehmens mit fortgeschrittenen statistischen Methoden. Die Ergebnisse fliessen dann in die Geschäftsplanung ein", meint Beat Hulliger. In der Schweiz sei das für viele Unternehmen noch weit weg.

Dabei liegt einer der Ursprünge der modernen Statistik in der Schweiz. Der Basler Mathematiker und Physiker Jakob Bernoulli begründete Ende des 17. Jahrhunderts die Wahrscheinlichkeitstheorie. Anlässlich des 300. Geburtstags der Publikation seines Hauptwerks veranstaltet die Swiss Statistical Society Mitte Oktober einen Kongress in Basel; das Jahr 2013 ist gar als Internationales Jahr der Statistik ausgerufen worden. Der Titel von Bernoullis Hauptwerk lautet "Ars Conjectandi" – die Kunst der Vermutung.

Aus "Horizonte" 98, September 2013