Jenseits der qualitativen Färbung

Ausgetüftelt von Gelehrten der frühen Neuzeit, hat die Statistik einen Siegeszug angetreten. Bei all seiner Nützlichkeit für die sozialstrukturelle Durchdringung der Gesellschaft: Das statistische Denken verdeckt oft die Sicht auf die Realität. Von Urs Hafner

Wie der "Blick" kürzlich unter Berufung auf die Schweizerische Depeschenagentur gemeldet hat, bringen laut einer neuen Studie Länder, deren Bewohnerinnen und Bewohner viele Milchprodukte konsumieren, überproportional viele Nobelpreisträger hervor. An der Spitze der Rangliste rangiert Schweden, am Schluss steht China. Die humorige Spekulation des Forschers: Milch enthalte viel Vitamin D und werde häufig in Kombination mit Schokolade konsumiert, deren hoher Gehalt an Flavonoiden die geistigen Fähigkeiten ebenfalls steigere.

Obschon die in einer renommierten Zeitschrift publizierte Studie als Kritik an der einfältigen Verwendung statistischer Daten gelesen werden könnte, wurde sie von einigen Medien dahingehend zitiert, dass der angedeutete Zusammenhang tatsächlich bestehe, dass also – dieser Schluss liesse sich ziehen – die Chinesen im Schnitt dümmer sind als die Westeuropäer. Die mediale Rezeption führt die Plausibilität der Ergebnisse auf die Autorität der Zahlen zurück. Damit stützt die Studie ein Bild der Wirklichkeit, von dessen Wirkmächtigkeit sie zugleich zeugt: Real ist, was sich numerisch belegen, was als Durchschnitt, als repräsentativ gilt.

Zuhinterst die Rumänen

Dass die statistische Sicht der Dinge nicht Klischees über die Chinesen reproduziert, sondern sozialkritisch ausfällt, ist kein Garant dafür, dass sie reflexiv erfolgt. Eine Unicef-Studie zitierend, hat die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" kürzlich berichtet, es gehe den deutschen Kindern und Jugendlichen materiell gut, doch sie würden "immer unglücklicher". Gemessen am durchschnittlichen Lebensstandard, an den Bildungsmöglichkeiten, der Gesundheit und der Umwelt rangierten sie auf Platz 7 – Rang 1 nehmen die niederländischen Kinder ein, das Schlusslicht bilden die rumänischen mit Rang 29 , doch gemäss der Einschätzung ihrer Befindlichkeit landeten sie nur auf Rang 22. Auf dem letzten Platz stehen wiederum die Rumänen. Die Studie verweist damit auf ein grosses gesellschaftliches Problem: Dass Kinder sich trotz Wohlstand unwohl fühlen und die Lebensbedingungen für osteuropäische Jugendliche massiv schlechter sind als für nordeuropäische.

Auch die Unicef-Studie operiert mit quantitativen Daten und gibt die standardisiert und daher nur oberflächlich erfassten subjektiven Einschätzungen der Kinder als Durchschnittswerte wieder. Das Resultat ist zweischneidig: Was einerseits von den schwierigen Lebensbedingungen in Rumänien zeugt, zementiert andererseits das – letztlich abwertende – Vorurteil über die Armseligkeit seiner Bewohner. Dem durchschnittlichen rumänischen Kind geht’s schlecht – obschon es dieses Kind gar nicht gibt. Indem die Statistik alle Untersuchten in den gleichen Topf wirft, schafft sie eine eigene Realität.