Die Gefühle sind im Herzen des Geistes

Dieses Bild zeigt David Sander.

Der Psychologe David Sander ist für seine Forschung über Emotionen und deren Wirkungen auf kognitive Funktionen mit dem Latsis-Preis 2013 ausgezeichnet worden. Als leidenschaftlicher Experimentator und Technikbegeisterter verknüpft er verschiedene Disziplinen. Von Catherine Riva

​"Fantastisch" ist ein Wort, das aus dem Mund von David Sander oft zu hören ist: Wenn er von seinen Arbeitsbedingungen an der Universität Genf, vom Austausch mit
seinen Mentoren oder von Kolleginnen und Kollegen spricht. "Ich schwebe ein wenig
auf einer wissenschaftlichen Wolke", sagt er.

Mit 37 Jahren kann der Psychologe auf eine bereits eindrückliche Karriere zurückblicken: ordentlicher Professor, Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts "Affektive Wissenschaften", populärwissenschaftlicher
Autor und Verfasser eines Buchs über Gefühle für Kinder. Eine bunte Palette, zu der nun noch die Verleihung des Latsis-Preises 2013 hinzukommt.

Das Forschungsgebiet des Emotionsspezialisten befindet sich an der Schnittstelle
von Disziplinen wie Humanwissenschaften, Neurowissenschaften, Informatik,
Wirtschaft und Psychologie. "Ich bin überzeugt, dass die psychologische Forschung
von konzeptuellen Analysen aus der Philosophie genauso profitiert wie vom besseren Verständnis neuronaler Mechanismen", sagt er.

David Sander ist auch leidenschaftlicher Experimentator und begeisterter
Anwender verschiedener Technologien: bildgebende Verfahren, Psychophysiologie,
funktionelle MRT, Olfaktometrie, virtuelle Realität … Das von ihm geleitete Zentrum
für Emotionsforschung der Universität Genf verfügt über ein Labor, in dem komplexe
Experimente über Emotionen und Die Gefühle sind im Herzen des Geistes deren Wirkungen auf die kognitiven Funktionen – wie das Treffen von Entscheidungen,
das Gedächtnis oder die Aufmerksamkeit – durchgeführt werden können.

Die Frage, ob es nicht dem Kern der Psychologie widerspricht, Erkenntnisse durch
bildgebende Verfahren des Gehirns zu gewinnen, stellt sich für ihn nicht: "Wenn
wir mehr über den menschlichen Geist erfahren können, weshalb sollten wir nützliche Informationen ausschlagen? Die Idee der affektiven Wissenschaften besteht ja gerade darin, die verschiedenen Disziplinen, die sich mit Gefühlen befassen, zusammenzubringen."

David Sander wollte schon als Jugendlicher Forscher werden. 1996, zwei Jahre,
nachdem er gleichzeitig das Studium der Psychologie und der angewandten Mathematik in Angriff genommen hatte, macht er sich nach Lyon auf, wo Olivier Koenig einen Lehrgang für kognitive Wissenschaften anbot. "Diese Vielfalt von Annäherungen an kognitive Prozesse entsprach mir besser als die Psychoanalyse", erinnert er sich. "Olivier Koenig ist bis zum Abschluss der Doktorarbeit mein Mentor geblieben. Mit ihm habe ich begonnen, diese Methode auch auf Emotionen anzuwenden."

Eine neue Rolle für die Amygdala

Aber wie lassen sich Mechanismen identifizieren, die Gefühle steuern, und Vorhersageschemen ableiten? Um diese Hürde zu nehmen, befasst sich David Sander insbesondere mit dem Evaluationsprozess, mit dem wir den affektiven Wert von Ereignissen einschätzen. "Emotionen entstehen nur, wenn wir ein Ereignis als wichtig erachten", bemerkt der Psychologe, der 2003 einigen Staub aufwirbelte, als er einen Artikel publizierte, in dem er die bisher angenommene Rolle der Amygdala in Frage stellte.

Während diese mandelförmige Hirnstruktur damals als "Angstzentrum" galt, entwickelte David Sander, bereits als er noch an seiner Dissertation arbeitete, eine
gegenläufige Hypothese: Die Amygdala könnte eine viel weiter gefasste Funktion
haben, indem sie die Relevanz von Ereignissen bewertet und uns darüber informiert,
"was für uns im Hinblick auf unsere Ziele, unsere Werte und unser momentanes
Wohlbefinden wichtig ist".

Damit rüttelte er am Modell der Basisemotionen, das vom amerikanischen
Psychologen Paul Ekman entwickelt worden war. Neben seinen Arbeiten zur Lüge,
die dank der TV-Serie "Lie to Me" einem breiten Publikum bekannt sind, hat Paul
Ekman auch die Existenz von Basisemotionen postuliert, die auf jeweils eigenen
Systemen beruhen. Seine Theorie stützt sich auf die Beobachtung, dass bestimmte
Gesichtsausdrücke von allen Menschen unabhängig von ihrer Kultur erkannt werden. Mit seiner Hypothese zur Amygdala stellt David Sander die Emotionen in einen grösseren Zusammenhang – "ins Herz des Geistes", wie er zu sagen pflegt –, um ihre Besonderheit zu betonen.

Gehirn, Gerüche, Soziales

"Es besteht eine enge Verbindung zwischen Gefühlen und kognitiven Prozessen", ist er überzeugt. "Emotionen unterstützen das Gedächtnis: Die meisten Menschen erinnern sich daran, was sie am 11. September 2001 getan haben, nur wenige aber wissen noch, was sie am nächsten Tag machten. Zwar haben bei starken Emotionen getroffene Entscheidungen den Ruf, irrational zu sein, nachträglich erweisen sie sich jedoch oft als sehr vernünftig. Ausserdem scheint die Emotion unsere Aufmerksamkeit automatisch darauf zu lenken, was für uns
relevant ist."

David Sander forscht an diesen Themen, seit er 2002 zur Fakultät für Psychologie
und Erziehungswissenschaften der Universität Genf gestossen ist. "Genf hat mir
die Zusammenarbeit mit zwei Kapazitäten ermöglicht: Klaus Scherer, Evaluationstheoretiker, und Patrik Vuilleumier, Experte für die Verbindungen zwischen emotionalem Gehirn und Aufmerksamkeit."

Gegenwärtig untersucht der Forscher mit seinen Kollegen insbesondere fünf
Komponenten, die allen Gefühlen gemeinsam sind: die physiologische Reaktion,
die Tendenz zur Aktion, die Evaluation, der Ausdruck (Gesicht, Stimme und Körper)
und das subjektive Empfinden. Ihre Projekte befassen sich beispielweise damit,
welche Abläufe Emotionen im Gehirn auslösen, wie Gerüche Emotionen auslösen
oder wie soziale Faktoren Emotionen beeinflussen. Die Reise ist keineswegs abgeschlossen: "Die Kinder, mit denen ich für mein Buch diskutierte, wollten wissen,
weshalb wir weinen, wenn wir traurig sind", erinnert er sich. "Darauf habe ich noch immer keine Antwort."

(Aus "Horizonte" 99, Dezember 2013)

David Sander

David Sander, 1976 in Paris geboren, ist ordentlicher Professor an der Fakultät für
Psychologie und Erziehungswissenschaften der Universität Genf, wo er das Zentrum
für Emotionsforschung leitet. Ausserdem ist er Direktor des Nationalen Forschungsschwerpunkts "Affektive Wissenschaften". Nach dem Abschluss seiner Studien in Psychologie, angewandter Mathematik und kognitiven Wissenschaften in Paris und Lyon kam er 2002 nach Genf. David Sander ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Nationaler Latsis-Preis

Jedes Jahr verleiht der SNF den mit 100 000 Franken dotierten Latsis-Preis. Die Auszeichnung ist Forscherinnen und Forschern vorbehalten, die weniger als 40 Jahre alt sind, und gehört zu den prestigeträchtigsten Wissenschaftspreisen der Schweiz.