Im Kino mit den Sittenwächtern

Dieses Bild zeigt das Plakat des Aufklärungsfilms "Schleichendes Gift" © Cinetext/RR

Ist ein blanker Busen anstössig oder erzieherisch wertvoll? Indem die Filmzensur Unmoralisches von der Leinwand zu bannen suchte, weitete sie die Grenzen des sittlich Akzeptablen und Darstellbaren aus. Von Susanne Leuenberger

"Bluttat von Winnenden: Amokläufer verbrachte Abend vor der Tat mit Killerspiel", titelte der "Spiegel", nachdem der 17-jährige Tim K. 2009 mit 113 Gewehrkugeln 15 Mitschüler und sich selbst getötet hatte. Die Ermittler stellten auf dem Computer des Täters Gewaltspiele und Bilder sicher, die gefesselte nackte Frauen zeigten. Der Fund entfachte in Deutschland eine Debatte über die Nachahmereffekte, die Gewalt- und Sexdarstellungen bei jugendlichen Konsumenten hervorrufen.

Für den Zürcher Filmwissenschaftler Matthias Uhlmann ist die öffentliche Angst vor dem ansteckenden Sog der Bilder, welche die Medien nach jugendlichen Amokläufen jeweils thematisieren, nicht neu: Der Forscher untersucht in seiner Dissertation die Filmzensur im Kanton Zürich von 1939 bis 1971, als sie per Volksabstimmung abgeschafft wurde. Lange vor dem Internet war es das städtische "Lichtspiel", das im Verdacht stand, eine Brutstätte moralischer Verderbnis zu sein. Im Dunkel des Kinosaals, so wähnten Sittenhüter der fünfziger Jahre, werde der Besucher von der projizierten Fiktion vereinnahmt und könne sich dieser auch im realen Leben nicht mehr entziehen. Die Zensurpraxis Zürichs mit seiner hohen Kinodichte war wegweisend für die reformierte Deutschschweiz.

Sex und Gewalt

Die Filmzensur wurde mit der kantonalen Kinoverordnung von 1916 institutionalisiert. Alle Filme mussten vor ihrer Vorführung bei der Polizeidirektion angemeldet werden. Bis zum Zweiten Weltkrieg waren es überwiegend Kriminal- und Gruselfilme, die von einer Kommission beanstandet wurden, "danach hielten sich Sex- und Gewaltszenen die Waage", sagt Uhlmann. Zwischen 1945 und 1971 wurden rund 60 Filme verboten und 330 mit Schnittauflagen versehen. Die Behörden wollten jedoch nicht nur Unsittliches und Verrohendes verbieten, sondern die bewegten Bilder erzieherisch in Dienst nehmen und das "Kino zu einem brauchbaren Instrument der Unterhaltung und Belehrung" machen, wie die Kommission um 1920 formulierte. So wurde ein "Aufklärungsfilm" wie "Schleichendes Gift" (1946) verboten. "Eva und der Frauenarzt" (1951) hingegen, der ebenfalls weibliche Genitalien und sekundäre Geschlechtsmerkmale zeigte, freilich in einem medizinischen Kontext, kam geschnitten ins Kino.

In den fünfziger Jahren weckten Werner Kunz’ "Naturistenfilme" die behördliche Sorge um die öffentliche Moral. In Farbe gedreht, stellte etwa "Sylt, Perle der Nordsee" dem Publikum die ästhetischen Vorzüge der lebensreformerischen Lebensweise zur Schau. Beinahe zwei Jahrzehnte vor Oswalt Kolles "Wunder der Liebe" (1968) und der sexuellen Befreiung der siebziger Jahre bereiteten die Kunzschen Filme die Aufweichung der Zensur vor. Waren sie zunächst verboten, wichen die behördlichen Zweifel an der sittlichen Zumutbarkeit der Nacktdarstellungen der Betonung von deren edukativem, aufklärerischem und ästhetischem Wert. Wie Uhlmann nicht ohne Schmunzeln feststellt, sei es ironischerweise gerade der erzieherische Impetus der Zensur gewesen, den Kunz für die Zulassung seiner Nudistenfilme habe geltend machen können.

Filmliebhaber Uhlmann selbst hält wenig von der gestrigen wie heutigen Zensurappellen innewohnenden Vorstellung, dass fiktionale Darstellungen von Sex und Gewalt "Eins-zu-eins-Effekte" auf das reale Leben zeitigen oder erzieherisch wirken könnten: "Filme sind einfach Geschichten. Der Mensch liebt es, zuzuschauen und dabei etwas anderes als im Alltag zu erleben."

Trailer: Oswalt Kolle - Das Wunder der Liebe

(Aus "Horizonte" 99, Dezember 2013)