Wenn Wiesenkräuter sich erinnern

Dieses Bild zeigt die Versuchsfelder in Jena. © The Jena Experiment

Wiesenpflanzen haben ein Gedächtnis: Sind sie in Monokulturen gross geworden, gedeihen sie besser dort, stammen sie aus Mischkulturen, besser in diesen. Von Vivianne Otto

Die Unterschiede zwischen den Versuchsfeldern in Jena fallen ins Auge. Auf einigen gedeihen Blumenwiesen mit Gräsern, kleinen und hochgewachsenen Kräutern sowie Leguminosen. Auf anderen Feldern haben dieselben Wiesenpflanzen – etwa Spitzwegerich oder Wiesenstorchenschnabel – ein ganzes Gebiet für sich allein. Wo wachsen sie besser? Es kommt darauf an, wo die Mutterpflanzen gewachsen sind, lautet die erstaunliche Antwort, die das Team um Bernhard Schmid, Professor für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften an der Universität Zürich, gefunden hat. Denn wachsen die Wiesenpflanzen während mehrerer Jahre in Mischkulturen, entwickeln sie sich deutlich besser, wenn sie wieder in Mischkulturen angepflanzt werden. Ihre Biomasse, also das Trockengewicht aller oberirdischen Pflanzenteile, ist wesentlich grösser als die Biomasse derselben Wiesenpflanzen, die nur unter ihresgleichen leben. Welche Arten in den Pflanzengemeinschaften vertreten sind, spielt dabei keine Rolle.

"Wiesenpflanzen entwickeln sich besser in Mischkulturen, weil sie dank ihrer Vielfältigkeit den Boden und das Sonnenlicht besser nutzen können", sagt Schmid. "Haben die einen oberflächennahe, flach ausgebreitete Wurzeln und die anderen lange, tiefe, können sie gemeinsam mehr Nährstoffe und Feuchtigkeit aus dem Boden aufnehmen. Ist die eine Pflanze hochgewachsen mit schmalen Blättern, lässt sie genügend Sonnenlicht auf die andere, niedere Schattenpflanze mit ihren grossen Blättern fallen." Eine solche Arbeitsteilung von zwei Pflanzenarten, von der beide profitieren, nennt Schmid Komplementarität. In den Mischkulturen werden die Unterschiede in der Gestalt der Pflanzen gar noch grösser. Die hochgewachsenen Pflanzen wachsen noch höher, die Blätter der Schattenpflanzen werden noch grossflächiger. Die Komplementarität nimmt zu. Umgekehrt schneiden in Monokulturen diejenigen Pflanzen, die schon in früheren Jahren einzeln gehalten worden waren, besser ab als die Gräser, Kräuter und Leguminosen aus den Mischkulturen. Woran liegt es, dass die Produktivität im Lauf der Zeit auch in Monokulturen steigt? Um dieser Frage nachzugehen, haben Schmid und seine Mitarbeiter ihre Pflanzungen auf verschiedenen Böden angelegt. Dazu verwendeten sie Erde, die entweder direkt vom Feld stammte und reichlich Pilze und Nematoden enthielt, oder aber vorher sterilisiert worden war. "Ganze Lastwagenladungen Erde hat meine Doktorandin umhergekarrt und bestrahlt", schmunzelt Schmid. Auf den Böden mit den Pilzen und Würmern wuchsen die Pflanzen aus Mischkulturen deutlich schlechter als diejenigen aus Monokulturen.

Gesparte Kraft

Offenbar sind Pflanzen in Monokulturen besser gegen Krankheitserreger im Boden gewappnet. Sie erreichen dies, indem sie Substanzen herstellen, die für die Schädlinge giftig sind. Mit Analysemethoden hat Schmids Forschungsgruppe die chemische Zusammensetzung der Wiesenpflanzen überprüft. Und tatsächlich unterscheiden sich Pflanzen in Mischkulturen chemisch deutlich von ihren Artgenossen aus den Monokulturen. Die Pflanzen in Mischkulturen müssen weniger Abwehrstoffe herstellen, weil sie in der Gemeinschaft weniger anfällig sind. Die Kraft, die sie damit sparen, können sie in ihr Wachstum, in den Aufbau von Stielen, Blättern, Blüten und Früchten investieren. Das erklärt, wieso Mischkulturen generell einen höheren Ertrag liefern als Monokulturen, unabhängig davon, ob die Pflanzen nun ursprünglich einzeln oder in gemischten Kulturen gewachsen sind. Heisst das aber auch, dass eine Wiese, auf der die Gräser in bunter Gemeinschaft mit Kräutern und Wiesenblumen wachsen, einen höheren Heuertrag liefert als ein reines Gräserfeld? Biodiversität zur Steigerung der Produktivität? Schmid bestätigt dies mit Nachdruck. "Mischkulturen liefern einen deutlich höheren Ertrag als Monokulturen. Das wissen viele nicht. Die meisten Leute denken, es sei umgekehrt." Dienen Schmids Erkenntnisse der Verbesserung der landwirtschaftlichen Erträge? "Landwirtschaftliche Anwendungen unserer Ergebnisse sind durchaus denkbar. Aber was wir hier machen, ist reine Grundlagenforschung."

Die Kurzzeit-Evolution

Wie kommt es, dass sich die Wiesenpflanzen auf das Wachsen in Mischkulturenspezialisieren? "Ich würde diesen Prozess als Kurzzeit-Evolution bezeichnen", sagt Schmid. Es bleiben diejenigen Pflanzen in einem Feld übrig, die aufgrund ihrer Eigenschaften am besten geeignet sind, dort zu
wachsen. Die andern werden aus der Pflanzengemeinschaft ausgeschlossen und verschwinden vom Feld. Dieser Prozess dauert nur ein paar Jahre und steht damit im Gegensatz zur Darwinschen Evolution, bei der es Jahrhunderte dauert, bis sich unter den zufällig entstehenden Genvarianten diejenigen durchsetzen, die einen Überlebensvorteil bringen.

Die Kurzzeit-Evolution – oder das Aussortieren – erlaubt eine rasche Anpassung an die lokalen Bedingungen. Die im Feld zurückbleibenden Wiesenpflanzen gehören dadurch zu denjenigen, die an diesem Ort und in dieser Pflanzengemeinschaft am besten gedeihen. Die Gesamtheit ihrer Eigenschaften kommt einem Gedächtnis gleich für die Pflanzengemeinschaft, in der sie erfolgreich waren. Und weil diese Eigenschaften in den Genen festgeschrieben sind, geben die Wiesenpflanzen sie an ihre Nachkommen weiter, vererben diesen also sozusagen ihre Erinnerungen, auf dass auch die nächsten Generationen in ähnliche Gemeinschaften erfolgreich sein werden.

(Aus "Horizonte" 99, Dezember 2013)