Unbehagen an der Universität

Dieses Bild zeigt protestierende Studierende an der ETH Lausanne. © Keystone/Laurent Gillieron

Die vom Schweizer Stimmvolk angenommene SVP-Initiative gegen die "Masseneinwanderung" trifft die Forschung ins Herz. Das Verdikt verletzt die Universalismusnorm, die dem Wissenschaftssystem zugrunde liegt. Von Urs Hafner

Vor der Abstimmung vom 9. Februar 2014, als die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die SVP-Volksinitiative gegen die "Masseneinwanderung" annahmen, gab sich die Wissenschaftswelt zurückhaltend. Nach der Annahme der Initiative nun und der Reaktion der Europäischen Union, welche die Schweiz von ihren grossen Forschungsprogrammen ausschliesst, macht sich allenthalben Empörung über das Volksverdikt breit, das die Zukunft des Forschungsplatzes Schweiz aufs Spiel setze. Der Tenor lautet: Der Forschungsplatz sei bedroht, weil gute Wissenschaft und Forschung auf internationale Vernetzung und auf Kooperation angewiesen seien. Nun sind "Vernetzung" und "Internationalität" primär Schlagworte, mit denen sich der globalisierte Wissenschaftsbetrieb gern schmückt. Auch der von Kongress zu Kongress jettende Wissenschaftler, der vor lauter Networking kaum mehr zum Forschen kommt, betont, wie wichtig die "internationale Vernetzung" für seine Arbeit sei.

"Internationalisierte Wissenschaft wird per se als exzellent wahrgenommen, unabhängig davon, was sie leistet", sagt der Wissenschaftsphilosoph Marcel Weber von der Universität Genf. Sich möglichst international zu profilieren sei für Wissenschaftler ein probates und selbstschmeichelndes Mittel, um in ihrem Feld zu Macht und zu Geld zu kommen. Internationales Prestige diene freilich, gibt er zu bedenken, nicht allein dazu, die Eitelkeit zu befriedigen. Die Anerkennung durch «Peers» spiele auch eine wichtige Rolle in der Selbststeuerung der Wissenschaft. Das Prestige sei wie eine Währung, die zu einer "optimalen Ressourcenallokation" führe. Damit werde es zu einem Teil der wissenschaftlichen Vernunft.

Der Aussage, dass internationale Vernetzung unabdingbar sei für die wissenschaftliche Forschung, könne sie so nicht zustimmen, sagt die Wissenschaftssoziologin Bettina Heintz von der Universität Luzern. "Der Satz blendet die arbeitstechnischen Differenzen zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften aus." Die Experimentalphysik und die Molekularbiologie beispielsweise, zwei äusserst spezialisierte Disziplinen, seien aufgrund der komplexen Apparate, die sie für ihre Arbeit benötigten, zur internationalen arbeitsteiligen Kooperation gezwungen.

Die Geisteswissenschaften dagegen seien nicht gleichermassen auf Kooperation angewiesen. Für die Historikerin und den Germanisten sei der persönliche Austausch mit Kollegen, die im Ausland arbeiteten, wichtig und bereichernd, aber ihre Arbeiten würden sie am Ende oft allein schreiben. Man müsse zwar Zugang zu den Texten der Kollegen haben, aber man sei nicht notwendig darauf angewiesen, mit ihnen in einem Forschungsverbund zu kooperieren.

Kosmopolitische Gelehrtenrepublik

Bettina Heintz möchte indes die Differenzen zwischen den Disziplinen nicht als Absage an den grenzüberschreitenden Kontakt der Wissenschaften verstanden wissen. Im Gegenteil, betont sie: Jeder Wissenschaftler müsse die Chance haben, potenziell mit jeder anderen Wissenschaftlerin auf der Welt in Kontakt zu treten, um das global vorhandene Potenzial an Wissen und Erfahrung nutzen zu können. Auf dieser "Norm des Universalismus", die der US-amerikanische Soziologe Robert K. Merton formuliert habe, basiere das System der Wissenschaften grundlegend.

Die auch geografisch grenzüberschreitende Dynamik der Wissenschaften lässt sich seit ihren Anfängen im Spätmittelalter und in der Renaissance beobachten, als die ersten Universitäten gegründet wurden. Thomas von Aquin, Albertus Magnus und andere hätten an Universitäten und Klosterschulen in Bologna, Padua, Paris und Köln studiert und gelehrt, sagt der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner von der ETH Zürich. Auch die erste moderne Forschungsuniversität Europas, die Anfang des 18. Jahrhunderts gegründete Universität Göttingen, sei international ausgerichtet gewesen. So kosmopolitisch wie die "Gelehrtenrepublik" der Aufklärung sei die Wissenschaft weder vorher noch nachher je gewesen. In ganz Europa hätten die Gelehrten in den Wissenschaftssprachen Latein und Französisch miteinander korrespondiert.

"Lokal begrenzte Vernunft"

Umgekehrt lässt sich zeigen, dass Wissenschaftssysteme, die von ihrer Umwelt isoliert waren, stagnierten oder verkümmerten. Michael Hagner nennt das Beispiel der Universität Tübingen, die ihre Lehrstühle im 17. Jahrhundert innerhalb einheimischer Honoratioren vererbte. Das Resultat sei die Ausbildung einer "lokal begrenzten Vernunft" gewesen. Für das 20. Jahrhundert zählt Hagner die gründlich erforschten Fälle des nationalsozialistischen Deutschland und der Sowjetunion auf. Unter diesen totalitären Diktaturen seien nur die Disziplinen produktiv gewesen, die das System stabilisiert hätten, also vor allem die technologisch-militärischen. In Deutschland etwa sei die Bakteriologie, die als "jüdische Wissenschaft" denunziert wurde, ins Hintertreffen geraten. Und die Wissenschaftsgeschichte habe, auch nach dem Nationalsozialismus, "jahrzehntelang vor sich hingemurkelt", bis sie sich in den 1980er Jahren der angloamerikanischen Welt öffnete.

Selbst Fälle von Isolation, die auf den ersten Blick intellektuell fruchtbar erscheinen, erhärten laut Michael Hagner die These, dass Wissenschaft auf Austausch angewiesen sei. Der Philosoph Hans Blumenberg habe zwar nach seiner Emeritierung abgeschottet von der Welt ein gigantisches Werk geschrieben. Dies wäre ihm jedoch nicht gelungen, wenn er als junger Gelehrter keine Lebenserfahrungen jenseits eines geschlossenen Wissenssystems hätte sammeln können. Gleiches gelte auch für Marcel Proust, der seine legendäre "Recherche" erst in der zweiten Lebenshälfte verfasst habe. Marcel Weber betont, dass auch die als einsame Genies geltenden Immanuel Kant und Gregor Mendel mit anderen Gelehrten in intensivem Austausch gestanden hätten, ohne den sie kaum zu ihren bahnbrechenden Einsichten gelangt wären.

Die Abstimmung vom 9. Februar kappt nicht alle Bande, die Wissenschaftlerinnen in der Schweiz mit Kollegen im Ausland verbinden. Aber der Schaden, den das Volksverdikt angerichtet hat, droht um einiges grösser zu werden als die Millionen, die nun den Hochschulen fehlen werden, die in den letzten Jahren viel Geld aus Brüssel eingeworben haben. Die Schweiz schickt sich mit dem von der Initiative vorgesehenen rigiden "Kontingenzprinzip" an, an ihren Universitäten einen kompletten "Artenschutz für Schweizer" – wie Bettina Heintz sagt – auch gegenüber EU-Forschenden einzuführen; gegenüber Forschenden, die von ausserhalb der EU kommen, besteht das Kontingenzsystem bereits. Nationalität kommt nun definitiv vor Qualität.

Das Kontingenzprinzip verletzt nicht nur die Universalismusnorm, sondern auch die Integrität der nun ausgegrenzten ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch solche, die schon seit Jahren in der Schweiz leben, fühlen sich seit dem 9. Februar 2014 unbehaglich in ihrer Haut. "Ich würde lügen, wenn ich das bestreiten würde", sagt Michael Hagner.
(Aus "Horizonte" Nr. 101, Juni 2014)