Zu viel direkte Demokratie?

Andreas Auer und Anna Christmann

Immer wieder flammt die Diskussion über die direkte Demokratie auf. Hat die Schweiz zu viel davon? Andreas Auer möchte die Volksrechte nicht beschneiden, Anna Christmann dagegen würde Grenzen setzen.

​Andreas Auer

Masseneinwanderung, Ausschaffung, Minarettverbot: Warum stören sich das Ausland und ein guter Teil der Schweizerinnen und Schweizer an Entscheiden, die doch durch eine Volksmehrheit demokratisch legitimiert sind? Zu viel Demokratie – kann es das überhaupt geben?

Direkte Demokratie ist zunächst völlig zu Recht ein sehr beliebtes Instrument. Die europäischen Nachbarn blicken in der Regel voller Neid auf die umfangreichen Beteiligungsrechte auf allen politischen Ebenen der Schweiz. Manche der letzten Volksentscheide haben den guten Ruf der weltweit einmaligen halbdirekten Demokratie der Eidgenossenschaft jedoch getrübt. Warum werden sie als "schlechte" Ergebnisse direktdemokratischer Abstimmungen empfunden und diskreditieren damit das Instrument selbst?

In der Demokratie gibt es an sich keine richtigen oder falschen Entscheidungen. Umgesetzt wird der Vorschlag, der eine politische Mehrheit bekommt – nicht der, der "richtig" ist. Das gilt grundsätzlich für eine repräsentative Demokratie genauso wie für Volksentscheide. Nach jahrhundertelanger Erfahrung hat sich in den etablierten Demokratien jedoch eine spezifische Form herauskristallisiert: die liberale Demokratie, auch demokratischer Rechtsstaat genannt. Ein demokratischer Rechtsstaat besteht heute nicht nur aus Mehrheitsentscheiden, er besteht auch aus garantierten Grundrechten, die nach John Locke die Bürger voreinander und vor dem Staat zu schützen und um die schon von Theodor Heuss befürchtete "Tyrannei der Mehrheit" zu verhindern. Es kann also nicht darum gehen, immer "mehr" Demokratie zu haben – ein Gleichgewicht zwischen demokratischen Mehrheitselementen und Grundrechtsschutz ist entscheidend.

Eine ausgebaute direkte Demokratie bei gleichzeitig schwacher rechtsstaatlicher Kontrolle kann dieses Gleichgewicht aushebeln. Die Auswirkungen können wir im Vergleich der Schweiz mit dem US-Bundesstaat Kalifornien beobachten. In beiden Staaten haben Volksinitiativen, die Grund- oder Minderheitenrechte beschneiden, eine überdurchschnittlich hohe Annahmequote. Direkte Demokratie stellt also eine latente Gefährdung von Grundrechten dar. In Kalifornien wird daher ein Grossteil bereits angenommener Initiativen von Gerichten gekippt, das jüngste Beispiel ist die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. In der Schweiz hat hingegen bekanntermassen das Volk das letzte Wort, eine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es nicht.

Gerade weil die Tradition der Volksrechte in der Schweiz so lang ist, würde eine schärfere Prüfung von Initiativen auf die Verträglichkeit mit Grund- und Menschenrechten oder auch mit internationalem Recht die direkte Demokratie als solche nicht ins Wanken bringen. Hier ist mehr Mut gefragt – zum Beispiel zu einer verbindlichen Verfassungsgerichtsbarkeit.

Eine strengere Kontrolle würde zudem ein weiteres Imageproblem lösen. Derzeit neigen Bundesrat und Parlament dazu, problematische Initiativen nicht vollständig umzusetzen. Die Alpeninitiative von 1994 wartet bis heute auf ihr Inkrafttreten. Über Volksinitiativen abzustimmen, deren Umsetzung das Parlament dann nach politischen Abwägungen statt nach rechtlichen Massgaben gestaltet, führt zu Frustration.

Rechtliche Grenzen hingegen schwächen direkte Demokratie nicht – sie garantieren Funktionalität und Effektivität.

Die Politologin Anna Christmann hat bis 2013 am Zentrum für Demokratie der Universität Zürich in Aarau geforscht. Sie arbeitet im Wissenschaftsministerium des Landes Baden-Württemberg in Stuttgart.(Aus "Horizonte" Nr. 102, September 2014)