Die Politik kann warten

eine Jungbürgerfeier im Genfer Théatre du Léman © Isabelle Csupor

An der Jungbürgerfeier erhalten Jugendliche die Bürgerrechte. Auf ihre Beteiligung am politischen Leben scheint dieser Anlass jedoch wenig Einfluss zu haben. Von Dominique Hartmann

​Haben Festlichkeiten, die vom Staat organisiert werden, wenn Jugendliche das Stimm- und Wahlrechtsalter erreichen, einen Einfluss darauf, ob diese sich später politisch engagieren? Damit beschäftigt sich eine Untersuchung der Fachhochschule Westschweiz (HES-SO). Sie konzentriert sich auf Jugendliche der Mittel- und Oberschichten – diese nehmen am meisten an Jungbürgerfeiern teil. An den Anlässen werde versucht, Emotionen zu wecken, sagt die Sozialwissenschaftlerin Laurence Ossipow. Einige Feiern gleichen fast einem Initiationsritual, etwa jene mit nächtlicher Schnitzeljagd inklusive Bezwingung der Klettermauer an der Brücke zwischen Marly und Freiburg. Die Feiern sind so unterschiedlich wie die verwendete Symbolik.

In Anières, Genf, ist ein pädagogischer Ansatz auszumachen: Die Jugendlichen werden von einem politischen Paten begleitet und eingeladen, eine erste Motion im Gemeinderat einzureichen. Im freiburgischen Düdingen hält der Gemeindeammann eine Rede, danach folgen Spiele mit Politikerinnen und Politikern. Und während in der Stadt Genf die Flaggen von Europa, der Schweiz und Genf wehen, setzt Marly, Freiburg, auf regionale Symbole.

"Bei den Feierlichkeiten steht der Staat im Vordergrund, nicht die Jugendlichen", sagt die Forscherin, "als ob die Politik den Jugendlichen ihren Stempel aufdrücken wollte." Ein Teil der Politikerinnen und Politiker vertritt eine konventionelle Sicht der Partizipation, die sich im Wesentlichen auf offizielle politische Handlungen beschränkt. Kritische Äusserungen kommen nicht gut an, obwohl sie theoretisch als Gewinn dargestellt werden. Auch die Aufrufe zur Teilnahme an Abstimmungen sind paradox: Politiker betonen, dass diese nicht der Moment "für ein Wunschkonzert" seien. Andere fordern die Jugendlichen auf, sich sozial oder informell zu engagieren, vor allem in Gemeinden, die auch ausländische Jugendliche einladen, da diese nicht alle politischen Rechte erhalten und somit nicht eigentlich mündig werden.

Ein Blick in die Archive zeigt, dass die Feierlichkeiten zwischen 1924 und 1944 den Männern vorbehalten und an den Militärdienst gekoppelt waren. 1942 intervenierten Frauenvereine mit dem Argument, dass die Mädchen ebenfalls einzuladen seien, weil sie Frauenhilfsdienst leisten. Bis 1960, als das Frauenstimmrecht auf Gemeinde- und Kantonsebene eingeführt wurde, gab es zwei separate Ansprachen, mit denen die jungen Männer zur Teilnahme am öffentlichen Leben und die jungen Frauen zur Kindererziehung angehalten wurden.

Immer weniger

Auch politische Trends prägten die Aufrufe zur Bürgerbeteiligung. Zwischen 1942 und 1944 galt es, den Patriotismus zu stärken. Mit dem Wirtschaftsaufschwung in den 1960er Jahren tauchte das Konzept eines vereinten Europas in den Reden auf. Später wurden diese polemischer. Die Sozialwissenschaftlerin Isabelle Csupor erzählt, dass 1971 eine junge Frau eine kritische Rede zum Wirtschaftsimperialismus und zum kirchlichen Verbot der Empfängnisverhütung hielt. Doch immer weniger Jugendliche nehmen an den Jungbürgerfeiern teil. Seit 2011 unternimmt Genf Anstrengungen, um auch Jugendliche zu einer Teilnahme zu bewegen, die nicht studieren.

Die Forschenden kommen zum Schluss, dass die Jungbürgerfeiern "nicht ins Schwarze treffen". Zwar sind politisch tätige Personen bereit, Jugendliche zu unterstützen, die sich sozial oder politisch engagieren wollen, diese interessieren sich aber im Allgemeinen kaum für Abstimmungen. Die Jugendlichen engagieren sich vor allem sozial (Jugendorganisationen, Sportclubs). Politik wird – vielleicht – später einmal ein Thema sein.

Dominique Hartmann ist Redaktorin bei "Le Courrier".

(Aus "Horizonte" Nr. 102, September 2014)