Die doppelte Last der Fehlernährung

Ein Markt in Bangalore, Indien. © Isabelle Aeberli, Philip Herter

Wieso nehmen übergewichtige Menschen zwar zu viele Kalorien, aber oft auch zu wenig Eisen auf? Die Lebensmittelingenieurin Isabelle Aeberli suchte im indischen Bangalore nach Antworten.

Die Unterschiede zwischen arm und reich sind in Bangalore extrem. Während meines vierzehnmonatigen Forschungsaufenthalts habe ich dort in einem geschlossenen Wohnkomplex gewohnt mit einem Schwimmbecken in der Mitte und sogar einem Fitnesscenter. Doch es gibt Menschen, die für ein paar Dollar tagtäglich von Hand die Strassen reinigen. Auch ein technischer Mitarbeiter im Labor verdient nicht annähernd genug, um sich eine Wohnung in einer solchen Siedlung leisten zu können. Insgesamt steigen die Löhne der indischen Mittelschicht in wirtschaftlich blühenden Städten wie Bangalore aber an. Gleichzeitig nimmt der Anteil an Übergewichtigen und Fettleibigen rasant zu – das war früher nur in Ländern mit hohem Lebensstandard ein Problem. Viele Fettleibige nehmen zwar mehr Kalorien zu sich, als sie verbrauchen, trotzdem fehlen ihnen oft Nährstoffe wie zum Beispiel Vitamine, Zink oder Eisen. Diese Doppelbelastung – das Übergewicht und der Mangel an Mikronährstoffen – interessiert mich. Bisher wurde diese doppelte Last in westlichen Ländern untersucht. Doch wie sind übergewichtige Frauen in Indien davon betroffen?



Dieser Frage nahm ich mich mit Anura V. Kurpad an. Den Professor für Humanernährung am St. John’s Hospital in Bangalore kannte ich schon, weil wir in gemeinsamen Projekten zusammengearbeitet hatten. Mit Hilfe seines Teams haben wir 150 Frauen untersucht, hauptsächlich Studentinnen oder Angestellte des Spitals.

Tatsächlich weisen fettleibige im Vergleich zu normalgewichtigen Frauen ein erhöhtes Risiko für Eisenmangel auf. Das liegt aber vermutlich nicht daran, dass ihre Nahrung zu wenig Eisen enthält, sondern daran, dass übergewichtige Menschen es schlechter aufnehmen. Der Körper kontrolliert genau, wie viel Eisen er aufnimmt, weil er überschüssiges nicht ausscheiden kann und zu viel davon schädlich ist. Diese Kontrolle übernimmt ein Eiweiss, das in der Leber hergestellt wird und die Eisenaufnahme aus der Nahrung bremst – solange genügend Eisen vorhanden ist. Grössere Mengen des Eiweisses bildet die Leber aber auch bei chronischen Entzündungen aufgrund etwa von andauerndem Stress oder eben Übergewicht. Fettleibige Frauen nehmen also wahrscheinlich zu wenig Eisen aus der Nahrung auf, weil ihre Leber zu viel Kontroll-Eiweiss produziert.

Eigentlich wollten wir messen, wie viel Eisen die Frauen mit ihrer Nahrung zu sich führten. Das war aber leider unmöglich: Die Probandinnen schätzten ihre tägliche Kalorienzufuhr häufig zu tief ein und unterschlugen etwa den Kaffee mit drei Stück Zucker und die Kekse, die sie zwischendurch zu sich nahmen. In einer zweiten Studie wollten wir klären, ob eine ausgewogene Ernährung zwei Probleme auf einmal lösen würde, also ob sich die Eisenversorgung der Frauen verbesserte, wenn sie abnähmen. Aufgrund des Gewichtsverlusts müssten die Entzündungswerte im Blut der Frauen sinken und ihre Eisenaufnahme wieder normal funktionieren. Leider mussten wir den Versuch abbrechen, da die Umsetzung auch hier komplizierter war, als wir angenommen hatten.

Das Auswerten der Proben hat lange gedauert, und die letzten Resultate habe ich erst nach meiner Rückkehr in die Schweiz erhalten. Durch meinen Aufenthalt in Bangalore ist mir bewusst geworden, dass es in Schwellen- und Entwicklungsländern trotz gründlichem Planen passieren kann, dass eine Sache nicht zustande kommt. Diese Erkenntnis erleichtert mir heute meine Arbeit im Labor für Humanernährung an der ETH Zürich, wo ich als Oberassistentin tätig bin. Auch wenn sie manchmal viel Geduld erfordert hat, möchte ich die Zeit in Indien auf keinen Fall missen.(Aus "Horizonte" Nr. 102, September 2014)