Die Universität als Veranstaltung der Ober- und der Mittelschicht

die Einreichung einer Stipendieninitiative © Keystone/Marcel Bieri

Wie kann man am besten erreichen, dass bei der Bildung Chancengleichheit gilt und sich nicht nur Gutbetuchte ein Studium leisten können? Die Frage ist von einiger Brisanz, doch erforscht ist sie noch kaum. Von Roland Fischer

Es ist etwas
faul im Staate Schweiz – zumindest was die Unterstützung von Studierenden aus
finanziell schwächeren Familien betrifft. Kurz gesagt: Das Stipendienwesen ist
ein ge­höriges föderalistisches Gestrüpp. Es gibt 26 unterschiedliche
Regelungen, das lässt ein Gesuch um Unterstützung zuweilen zum geografischen
Glücksspiel werden. "Die heutige Regelung ist unfair, weil die Nidwaldner
Studentin eine viel kleinere Chance auf ein Stipendium hat und viel weniger
Unterstützung bekommt als der Waadtländer Student, auch wenn sie an der
gleichen Berner Fachhochschule stu­dieren und ihre Familien gleich wenig Geld
haben", schrieb der Verband der Schweizer Studierendenschaften (VSS) unlängst
als Reaktion auf den Entscheid des Ständerats, der sich zum wiederholten Mal
weigerte, Schritte hin zu einer Harmonisierung der Regelungen zu unternehmen
(siehe Kas­ten). Beispielsweise bekommt im Bündner­land einer von 74 Einwohnern
ein Stipen­dium, im Kanton Glarus ist es nur gerade einer von 285. Und auch die
Höhe der Un­terstützungsbeiträge variiert stark: Auf Hochschulstufe gibt es im
Kanton Neuenburg im Schnitt nur 4000 Franken im Jahr, im benachbarten Kanton
Waadt ist es fast dreimal so viel. Ganz grundsätzlich gilt: Nur in den wenigsten
Kantonen ist genug Geld vorhanden, um alle Studienwilligen so zu unterstützen,
dass das Ideal der Chan­cengleichheit unabhängig von Herkunft und
Familienverhältnissen erfüllt wäre.

Die
Stipendienmisere ist die Folge einer eigentlich positiven Entwicklung: In den
1960er Jahren begannen die Studenten­zahlen anzuwachsen, ein bis heute
ungebrochener Trend. Bis dahin war ein Hoch­schulstudium ganz
selbstverständlich nur etwas für Gutbetuchte. Insgesamt studier­ten 1960 an den
acht kantonalen Universi­täten und der ETH etwa 14 000 Personen, was einer
Hochschulstudentenquote von nur drei Prozent entsprach – Stipendien waren da
schlicht kein Thema. Dann kam die Bildungsexpansion, und mit ihr 1965 ein
eigentliches Stipendien-Bundesgesetz, das sicherstellen sollte, dass "auch
Kinder aus wenig bemittelten Familien den ihren Fähigkeiten und ihren
Charaktereigen­schaften entsprechenden Beruf wählen können", wie Bundesrat
Tschudi damals schrieb. Und in den Anfängen des Schwei­zerischen
Stipendienwesens erreichte man dieses hehre Ziel auch gut.

Sinkende Stipendien-Quoten

Zwischen 1960 und Mitte der
1970er Jahre verdreifachte sich die Zahl der Studentin­nen und Studenten in der
Schweiz – bis heute sind die Studentenzahlen stetig weiter gestiegen. Die
Stipendienausga­ben allerdings sind seit 1980 kaum mehr gewachsen, was die
Quote kontinuierlich sinken liess: Bekamen 1980 noch 16 Pro­zent der Personen,
die eine nachobligato­rische Ausbildung machten, ein Stipen­dium, waren es 2013
nur noch etwas über 7
Prozent. Der Bund engagiert sich dabei kaum mehr: 25 von den insgesamt 300
Stipendienmillionen kommen aus seiner Kasse. Damit gilt offenbar wieder, dass
man sich eine höhere Bildung auch leisten können muss. "Die Universität ist
nach wie vor eine Veranstaltung der Ober- und der Mittelschicht", wie Charles
Stirnimann sagt, Chef des Basler Amts für Ausbildungsbeiträge und Präsident der
Interkantona­len Stipendienkonferenz.

Aus
gesamtgesellschaftlicher Sicht noch interessanter ist die Situation bei den
Fachhochschulen. Diese hätten ein ungleich grösseres Potenzial, auch Men­schen
aus bildungsfernen Schichten einen Hochschulabschluss zu ermöglichen, die
soziale Durchlässigkeit sei da viel grösser, sagt Stirnimann. Die
Fachhochschulen müssten dementsprechend auch eine hö­here Stipendienquote als
die Universitä­ten aufweisen – tatsächlich bewegen sich die Quoten aber etwa
auf gleichem Niveau, wie die kürzlich erschienene Stipendien­statistik des
Bundesamts für Statistik zeigt. Für den Historiker und Experten des Schweizer
Stipendienwesens ein schönes Beispiel dafür, dass Stipendien "nicht ein­fach
eine Sozialleistung, sondern auch eine bildungspolitische Leistung" seien (oder
vielleicht besser: sein sollten) – mit der richtigen Steuerung könne man "das
vor­handene Potenzial der Gesellschaft opti­mal nutzen" und auch auf
gesellschaftliche Veränderungen hinwirken. Ein Argument, das insofern wieder
aktuell wird, als die Schweizer Arbeitgeber einen Fachkräfte­mangel beklagen.

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