Das Rennen gegen die Uhr

Zwei Frauen bei der Arbeit in einem Reisfeld © François Chappuis, Sanjib Sharma, David Warrell

Was ist die beste Behandlung gegen Bisse von Schlangen mit neurotoxischen Giften? François Chappuis, Leiter der Abteilung für Tropen- und humanitäre Medizin des Universitätsspitals Genf, koordinierte dazu den ersten randomisierten klinischen Versuch in Nepal. Von Catherine Riva

"Unser Dienst arbeitet seit 1998 mit dem B.P. Koirala Institute of Health Science zusammen, einem Universi­tätsspital im Südosten Nepals. Diese Kooperation umfasst die epidemiologische und klinische Forschung im Bereich ver­nachlässigter tropischer Krankheiten, zu denen auch Schlangenbisse zählen.



Im Süden Nepals gibt es zwei Schlangenarten, durch deren Bisse Nervengifte in die Blutbahn gelangen, was zu einer fort­schreitenden Lähmung mit Atemstillstand und Tod führen kann: die Kobra und der Krait. Der Krait beisst nachts, und zwar oft Leute, die am Boden schlafen. Da sein Biss relativ schmerzlos ist, erwacht das Opfer zuweilen nicht einmal und stirbt im Schlaf. Die Kobra dagegen schlägt bei Tag zu. Be­sonders oft sind Personen betroffen, die auf dem Feld arbeiten. In jedem Fall aber ist es ein Rennen gegen die Uhr: Zwischen dem Biss und den ersten Symptomen liegt nur eine Stunde. Deshalb muss sichergestellt werden, dass die Behandlung innerhalb dieser kurzen Zeitspanne beginnen kann.



Für unsere erste Studie organisierten wir ein Netzwerk von Freiwilligen, die einen 24-Stunden-Pikettdienst für den Transport der Schlangenbissopfer mit dem Motorrad zum Behandlungszentrum bereitstellten. Dieses Programm bewirkte eine spektakuläre Senkung der Mortalität.



Bei der gerade abgeschlossenen Studie wollten wir die Diagnose und die Behand­lung der Opfer in den Zentren verbessern. Wir verglichen dazu insbesondere zwei Antivenin-Dosierungen miteinander. Die erste Dosierung folgt dem für Nepal emp­fohlenen Behandlungsschema, bei dem eine erste schwache Dosis verabreicht wird, gefolgt von weiteren Dosen in den folgenden Stunden oder Tagen. Die andere Dosierung entsprach den Empfehlungen der WHO mit einer fünfmal höheren einmaligen Dosis. Vor unserer Studie waren die beiden Dosierungen noch nie durch einen kontrollierten randomisierten Versuch verglichen worden.

Unsere Studie schloss etwas mehr als 150 Patientinnen und Patienten ein, die in drei Behandlungszentren erfasst wurden. Das doppelblinde Studiendesign stellte eine grosse Herausforderung dar: In jedem Behandlungszentrum musste eine Krankenschwester die Dosen so vorbereiten, dass weder der behandelnde Arzt noch der Patient wussten, um welche Behandlung es sich handelte. Deshalb erhielten nach der Erstdosis alle Patienten eine Infusion, die aber nur beim nepalesischen Protokoll das Antivenin enthielt.

Eine weitere Schwierigkeit: Die beteiligten jungen Assistenzärzte waren auf der Suche nach einem Weiterbildungsplatz in Nepal. Einige erhielten ein Angebot und brachen ihr Engagement ab. Für diese musste Ersatz gefunden und ausgebildet werden.

Ein weiteres Anliegen war es, nicht nur während der Studie die bestmögliche Behandlung anzubieten, sondern sicherzustellen, dass diese auch nach Abschluss der Studie erhalten bleibt. Vor Studienbeginn betrug die Mortalität bei einem Krait-Biss mehr als 30 Prozent. Im Rahmen der Studie konnte die Sterblichkeit auf 6 Prozent gesenkt werden, weil wir die Prüfärzte in der Reanimation mit Intubation und Beatmung ausbildeten.

Die Studienergebnisse zeigten keine Unterschiede zwischen den beiden Behandlungen. Wir bevorzugen dennoch die hohe Dosierung. Sie ist praktischer, besonders wenn es sich bei den behandelnden Personen nicht um Ärzte handelt und die Behandlung in ländlichen Gebieten erfolgt.

Bei einem Kobra-Biss lassen die Symptome der Neurotoxizität mit der Behandlung schnell nach, beim Krait ist dies nicht der Fall. Wir fragen uns zuweilen, ob die Antivenine gegen den Biss dieser Schlange überhaupt etwas nützen (was aber nicht Gegenstand unserer Studie war). Glücklicherweise ist die hohe Dosierung beim Krait-Biss nicht toxischer und hat deswegen zumindest keine stärkeren Nebenwirkungen. Aufgrund der mangelnden Wirksamkeit ist es jedoch wichtig, das Personal in Reanimation und Beatmung gut auszubilden.

Im ersten Quartal 2015 werden wir einen Workshop mit Teilnehmenden aus dem nepalesischen Gesundheitsministerium und anderen Akteuren durchführen und das Protokoll der Behandlung bei Schlangenbissen aufgrund der Ergebnisse unserer Studie überarbeiten."

Aufgezeichnet von Catherine Riva, freie Journalistin und Übersetzerin.

(Aus "Horizonte" Nr. 103, Dezember 2014)