"Keine Abstimmungsparolen ausgeben"

Das Titelbild der Horizonte Ausgabe 104. © SNF

Wissenschaft ist immer politisch. Das heisst aber nicht zwingend, dass Wissenschaftler in die Politik gehen sollen, auch wenn die Grenze zwischen den beiden Bereichen einmal durchlässig war. Facetten einer schwierigen Beziehung. Von Urs Hafner

(Aus "Horizonte" Nr. 104, März 2015)

​Eine Professorin im Parlament, die vehement die SVP-Volksinitiative "Schweizer Recht geht fremdem Recht vor" bekämpft? An einer Hand sind die Forscher abzuzählen, die in der Politik tätig sind, und nicht viel zahlreicher sind jene, die sich in der Öffentlichkeit politisch engagieren. Politik und Wissenschaft, das scheint in einer liberalen Demokratie nicht zusammenzupassen.

Das war im 19. Jahrhundert, unter der zerfallenden Alten Eidgenossenschaft, anders. Als das moderne Wissenschaftssystem noch in den Anfängen steckte, waren Gelehrte oft Politiker und umgekehrt; man denke etwa an den Mitbegründer der heuer zweihundertjährigen Akademie der Naturwissenschaften Schweiz, an den unerschrockenen Zürcher Demokraten Paul Usteri. Der Botaniker und Mediziner war Redaktionsleiter der "Neuen Zürcher Zeitung", mit der er unermüdlich für die Pressefreiheit kämpfte, und sass für die Liberalen im Zürcher Parlament. Kurz nach seiner Wahl zum Bürgermeister starb er (1831). Mit der neuen Akademie engagierte er sich für den Fortschritt der Wissenschaften und für die entstehende Nation. Gleiches tat der Waadtländer Anti-Aristokrat, Geograf und Historiker Frédéric-César de La Harpe, der die Schweiz vor zweihundert Jahren am Wiener Kongress vertrat. Beides, Wissenschaft und Politik, schien damals zusammenzugehören.

Wäre es also wünschenswert, dass sich heutige Wissenschaftler an Usteri und de La Harpe ein Beispiel nähmen, politisch Farbe bekennen und für ein Amt kandidieren würden, damit ihr wissenschaftliches Wissen direkt in die Politik einflösse oder – umgekehrt – dieses Wissen vermehrt unter praktischem Gesichtspunkt hervorgebracht würde? Kaum. Der grosse Soziologe Max Weber hat schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts festgestellt, dass Wissenschaft und Politik in einem parlamen-tarischen System zwei Paar Schuhe seien. Der Befund ist noch immer gültig: Politiker kämpfen mit fast allen Mitteln um die Durchsetzung ihrer Macht und ihrer Werte, Wissenschaftler dagegen verschreiben sich möglichst wertfrei der Erkenntnis und der Analyse einer Sache. Sie sind der Wahrheit verpflichtet. Welcher Weltanschauung sie folgen, sollte sekundär sein. Fliesst ihre Gesinnung in ihr Tun ein, was oft unvermeidbar und manchmal sogar befruchtend ist, sollten sie sich bemühen, diese zu sublimieren oder mit ihr als einer Erkennt-nisbedingung zu rechnen.

Doch obschon Wissenschaft und Politik zwei unterschiedliche Systeme bilden, die eigenen Währungen folgen (der Wahrheit beziehungsweise bestimmten Werten), sind sie in der "Wissensgesellschaft" enger denn je ineinander verschränkt. Der Staat nimmt die Wissenschaften seit ihrem Entstehen in die Pflicht. Ohne die Arbeiten patriotischer Historiker hätte die entstehende Nation keine einigende Mythologie entwickelt, ohne die Kenntnisse der Hydrologen und Geologen, die sich in den wissenschaftlichen Akademien engagierten, wären keine Landkarten entstanden, die nicht bloss dem Wanderer zur Freude gereichen und dem Militär die Orientierung erleichtern, sondern die Bevölkerung zur Herausbildung einer räumlichen Vorstellung ihres Landes ermuntern.

Osmotischer Austausch

Die Indienstnahme ist für die Wissenschaften eine Gratwanderung. Sie werden vom Staat, ohne den sie nicht gedeihen können, unterstützt, aber sie müssen darauf bedacht sein, ihre Autonomie zu wahren, auch im postnationalen Zeitalter. Heute sind anhand von Preisen, Publikationen und Patenten gemessene Erfolge und volkswirtschaftlich nützliche Resultate gefragt. Die Gesellschaft sei auf das praktische Wissen der Wissenschaften angewiesen, lautet die Forderung der Stunde. Als Experten liefern Forschende denn auch Grundlagen für politische Entscheidungen, kommentieren alle möglichen Geschehnisse und führen Meinungsumfragen durch.

Doch Wissenschaft ist eine genuin kritische Tätigkeit. Sie stellt zunächst keine Lösungen zur Verfügung, sondern sie problematisiert bestehende Routinen. Daher ist sie wesentlich unpraktisch. Wissenschaft baut Komplexität auf, nicht ab. Wer von ihr einfach umzusetzende Lösungen erwartet, wird enttäuscht. Genau dies versprechen aber die angewandte und die anwendungsorientierte Forschung. Forschung indes, die umstandslos angewandt werden könne, sei keine Forschung, sondern Dienstleistung, sagt der Soziologe Peter Schallberger von der Fachhochschule St. Gallen.

Forschung ist immer politisch, auch dann, wenn ihr dies nicht bewusst ist. Sie steht mit der Welt ausserhalb des Elfenbeinturms in einem permanenten osmotischen Austausch. Ein Beispiel dafür ist die Zürcher "Rassenforschung", die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als international führende Schule der biologischen Anthropologie etablierte; der Historiker Pascal Germann porträtiert sie im neuen, anlässlich des runden Jubiläums der Akademie der Naturwissenschaften erscheinenden Buch "Die Naturforschenden" (siehe Kasten). Die bedeutendsten Protagonisten dieser Schule waren Rudolf Martin, der 1899 in Zürich den ersten Lehrstuhl für Anthropologie der Schweiz erhielt, und sein Nachfolger Otto Schlaginhaufen. Die beiden verstanden sich als Naturwissenschaftler, die mit exakten Methoden eine wissenschaftliche Systematik der menschlichen Spezies erstellen wollten. Die letzte Neuauflage ihres erstmals 1914 erschienenen "Lehrbuchs der Anthropologie", einer technischen Anleitung zum Vermessen von Körpern, kam 1992 heraus.

Die Falle politischer Ideologien

Der Plan der Anthropologen war einfach, doch die Durchführung schwierig: Sie mussten viele Menschen vermessen, um ihr Wissen über die "Rassen" – deren Existenz schien ihnen unumstösslich zu sein – zu komplettieren. Dabei interessierten sie sich nicht nur für Schädelumfänge und Beinlängen, sondern auch für die Farbe des Anus und der Schleimhäute der Genitalien. Nur so, glaubten sie, sei die menschliche Hautfarbe zweifelsfrei festzulegen. Natürlich partizipierte niemand freiwillig an diesen peniblen Untersuchungen. Solang die Anthropologen in den von europäischen Mächten kolonisierten Gebieten forschen konnten, standen ihnen genügend unterschiedliche Menschen zur Verfügung. Nach der Dekolonisierung mussten sich die Wissenschaftler vermehrt mit schweizerischen Rekruten begnügen.

Die Wissenschaftler waren überzeugt, nur als Wissenschaftler zu handeln, die nichts als die reine Wahrheit verfolgten. Dass eine Rassentheorie per se rassistisch ist, dass mit ihrer Theorie der "Rassen" deren Bewertung einherging und dass sie mit ihrer Praxis die menschliche Integrität verletzten, war ihnen nicht bewusst oder wollten sie nicht wissen. Die Zürcher Schule definierte sich als unpolitische Institution. Das ermöglichte ihr, von der als neutral angesehenen Schweiz aus sowohl mit deutschen Anthropologen, die im Dienst der Nationalsozialisten arbeiteten, als auch mit wissenschaftlichen Gegnern des arischen Rassismus zu kooperieren. Die Reputation der Schule blieb unbeschädigt.

Die wissenschaftliche Autonomie, wie sie Max Weber definiert hat, ist stets prekär. Sie wird von der Politik und der Wirtschaft bedroht, welche die Wissenschaften für ihre Zwecke einspannen wollen. Diese Autonomie muss geschützt werden. Wenn die Wissenschaften jedoch glauben, ihre Autonomie bestehe darin, dass sie gänzlich unbeeinflusst von der politischen Sphäre arbeiteten, und wenn sie ihre ausserwissenschaftlichen Beziehungen nicht reflektieren, dann riskieren sie, in die Falle politischer Ideologien zu tappen. Nicht nur die Existenz der "Rassen", auch beispielsweise die Differenz zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht, die im 19. Jahrhundert von der Medizin exakt in der Gebärmutter und im Hirn nachgewiesen wurde, ist eine solche Falle.

Attacken von Rechtspopulisten

Die Professorin solle im Hörsaal zwar keine Abstimmungsparolen ausgeben, aber sie solle den Studierenden zeigen, dass wissenschaftliche Arbeit immer politische Relevanz habe, sagt die Historikerin Caroline Arni von der Universität Basel. Die Wissenschaften sollten also ihre Autonomie verteidigen und zugleich die politische Dimension ihrer Arbeit bedenken, ohne sich in den politischen Kampf zu werfen. Unterstützt werden sie dabei vor allem von den Akademien der Wissenschaften Schweiz, die sich als Thinktank und Interessenorganisation mit der strukturell schwierigen Beziehung von Wissenschaft und Ge-sellschaft beschäftigen. Dabei gilt es nicht bloss für die Wissenschaften gute Arbeitsbedingungen zu schaffen und der Politik Expertise zu übermitteln, sondern auch die Wissenschaften vor den Zumutungen der Politik und den Angriffen ihrer Gegner zu schützen.

Vielleicht müssen die wissenschaftlichen Institutionen dies in Zukunft noch stärker tun, wenn nämlich der politi-sche Druck auf die Wissenschaften weiter wachsen sollte. Ein Beispiel sind die politisch motivierten Attacken von Boulevardmedien und von Rechtspopulisten auf missliebige Intellektuelle. Wenn die Institutionen die Angegriffenen nicht in den Medien verteidigen, lassen sie zu, dass auch ihre Glaubwürdigkeit diskreditiert wird.

Urs Hafner ist Historiker und Wissenschaftsjournalist.

Politik und Naturwissenschaften

Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gehen seit langem auf eng verwobenen Wegen. Das illustriert der von den Historikern Patrick Kupper und Bernhard C. Schär zusammengestellte Band "Die Naturforschenden" – ein Pionierwerk, weil die Geschichte der Schweizer Naturwissenschaften wenig erforscht ist. Das Buch wirft fünfzehn Streiflichter auf die Geschichte der Naturwissenschaften seit dem Jahr 1800. Demnach war die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft, die heutige Akademie der Naturwissenschaften, schon bei der Gründung 1815 nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische Organisation. Es war die Zeit der einsetzenden Restauration, die reaktionären Kräfte hatten Oberhand. In der Naturforschenden Gesellschaft formierten sich die vielen Fraktionen der patriotischen Gegenbewegung neu.

Schon bald begann die Naturforschende Gesellschaft, Kommissionen zu bilden, um Fragen aus der Politik zu beantworten. Ein frühes Beispiel ist die Einsetzung einer Kommission zur "Untersuchung und Vergleichung Schweizerischer Masse und Gewichte" im Jahr 1822, die zur Vereinheitlichung der Masse und Gewichte führte. Die geologischen Karten waren wichtig für die Eisenbahn- und Strassenbauprojekte des Bundes, und die meteorologischen und hydrologischen Forschungen verbesserten die Wettervorhersagen. So waren die Kommissionen oft auch Vorläufer der sich im Aufbau befindlichen Bundesverwaltung, etwa von Swisstopo oder Meteo Schweiz. Die Naturschutzkommission wurde Wegbereiterin des organisierten Naturschutzes in der Schweiz. Sie gründete den Schweizerischen Nationalpark sowie zu dessen Finanzierung im Jahr 1909 den Schweizerischen Bund für Naturschutz, die heutige Pro Natura.

Das Buch "Die Naturforschenden" erscheint im Mai 2015. Es wurde von der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz initiiert und ist Teil der Aktivitäten zu ihrem 200-Jahr- Jubiläum. mf