Wissenschaftler gegen Pseudowissenschaft

die italienische Stammzellforscherin Elena Cattaneo © Christian Lüscher

Forschung und medizinische Versorgung eines Landes funktionieren am besten, wenn wissenschaftspolitische Entscheidungen transparent sind und auf wissenschaftlicher Evidenz basieren. Andernfalls wuchern schnell Willkür und Pseudowissenschaft. Ein Blick nach Italien zeigt, wie rasch es soweit kommen kann. Von Mirko Bischofberger

(Aus "Horizonte" Nr. 104, März 2015)

Es gibt immer noch Skeptiker, die den Zusammenhang zwischen der Krankheit Aids und dem HI-Virus in Frage stellen – auch unter Wissenschaftlern. Das ist ihr gutes Recht. Doch auch diese Minderheit lässt sich allmählich von sauber durchgeführten Studien und stichhaltigen Argumenten überzeugen. Denn die Skepsis basiert in diesem und oft auch in anderen Fällen auf Behauptungen, die wissenschaftlicher Überprüfung nicht standhalten. Leider kommt es trotzdem überall auf der Welt vor, dass die Öffentlichkeit und die Politik gut verkauften Wissenschaftsfiktionen auf den Leim gehen. So gibt es in unserem Nachbarland Italien, nur zwei Autostunden von Bern entfernt, immer wieder einen stark verzerrten Umgang mit der wissenschaftlichen Arbeitsweise – vor allem im medizinischen Umfeld. Italien ist aber auch ein gutes Beispiel dafür, wie erfolgreich und wichtig wissenschaftspolitisches Engagement von Forschenden sein kann.

Im Jahr 1997 berichteten die italienischen Medien zum Beispiel über eine neue Wundertherapie gegen Krebs. Die sogenannte Di-Bella-Multitherapie, ein Cocktail aus Vitaminen, Medikamenten und Hormonen, wurde von Luigi Di Bella entwickelt, Professor an der Universität Modena. Der Therapie fehlte allerdings jegliche wissenschaftliche Grundlage; es gab weder solide Forschungspublikationen, noch wurden klinische Studien durchgeführt. Die Medienarbeit war jedoch so erfolgreich und der Druck der Öffentlichkeit so gross, dass mehrere Richter schliesslich verordneten, die Therapie in den lokalen Gesundheitszentren durchzuführen und sie damit allen zugänglich zu machen. Viele Patienten wurden entsprechend behandelt, obwohl die Therapie ernsthafte Nebenwirkungen aufwies. Erst nachdem sich anerkannte italienische Krebsforscher in der Sache stark engagiert hatten, setzte der damalige Gesundheitsminister doch noch die Regeln des Handwerks durch und for-derte eine klinische Evaluation.

Ein jüngeres Beispiel kommt aus dem Umfeld der italienischen Stammzellforschung. So bot eine fragwürdige Firma mit dem Namen Stamina Foundation bereits 2009 eine auf Stammzellen basierende Therapie an. Der Gründer Davide Vannoni, ein Psychologe, der niemals selber in einer Fachzeitschrift über Stammzellen publi-ziert hatte, versprach seinen Patienten, durch das Einspritzen von Stammzellen gleich mehrere Krankheiten wie Parkinson, Muskeldystrophie und spinale Muskelatrophie zu lindern oder gar zu heilen. Obwohl der Nutzen und vor allem die Risiken der Therapie nicht untersucht waren, fand die Therapie ihren Weg in mehrere Gesundheitszentren. In den darauffolgenden Jahren wurden Hunderte von Patienten mit dieser Methode behandelt. Davide Vannoni war auch an der Gründung einer Stammzellen-Firma in der Schweiz beteiligt (siehe Kasten).

Kein Anspruch auf Wundertherapien

Als die Stammzellexpertin Elena Cattaneo von der Universität Mailand von dieser Therapie hörte, brachte sie die Geschichte ans Licht. Zusammen mit andern Fachkollegen verfasste sie Artikel in Tageszeitungen und Fachzeitschriften, brachte das Thema an Konferenzen auf, führte Telefongespräche mit Politikern, gab Interviews und tauschte sich mit Patientenorganisationen und Spitälern aus. Die Forscher erhielten auch Unterstützung vom japanischen Nobelpreisträger und Stammzellenpionier Shinya Yamanaka. Im Jahr 2013 entschied das italienische Parlament, dem Thema mit einer klinischen Studie auf den Grund zu gehen. Der Entscheid war umstritten, da es keine Studien gab, die üblicherweise vor der Durchführung einer klinischen Studie gefordert sind, wie zum Beispiel Experimente an Mäusen, die Hinweise geben, ob die Therapie auch beim Menschen funktionieren könnte. Andererseits würde eine klinische Studie die Therapie definitiv als Unfug entlarven können; die Studie kostete den italienischen Staat schliesslich drei Millionen Euro. Im Mai 2014 befand dann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Patienten kein Anrecht auf eine Therapie hätten, für die es keine wissenschaftlichen Grundlagen gibt. Das italienische Verfassungsgericht schloss sich diesem Urteil an. Somit können in Zukunft Wundertherapien, wie diejenige von Di Bella, unterbunden werden, bis wissenschaftliche Evidenz vorhanden ist.

Senatorin auf Lebenszeit

Auch bei der Verteilung von Forschungsgeldern und wissenschaftlichen Arbeitsstellen herrscht in Italien oft Willkür. Roberto Perotti, der an der Columbia University in New York und an der Bocconi- Universität in Mailand lehrt, hat in einem Buch viele Beispiele über Italiens Vetternwirtschaft in der Forschung gesammelt. Ein prominenter Fall betrifft Fabrizia Lapecorella: Die Ökonomin hatte sich im Jahr 2002 an der Universität Bari für eine Professur beworben. Sie erhielt die Position, obwohl sie keine einzige Publikation in den 160 wichtigsten internationalen Zeitschriften ihres Fachs aufweisen konnte, keine Publikation in den 20 wichtigsten italienischen Zeitschriften und keine Mitarbeit bei einem Buch. Die zweitklassierte Bewerberin hatte hingegen ein Doktorat an der London School of Economics gemacht und zehn Publikationen in den wichtigsten Zeitschriften der Welt veröffentlicht. Inzwischen leitet Fabrizia Lapecorella das Finanzdepartement der italienischen Regierung.

Die Mailänder Stammzellforscherin Elena Cattaneo hat die Willkür bei der Vergabe von Forschungsgeldern selber erlebt. Im Jahr 2009 schrieb das nationale Gesundheitsamt Forschungsgelder für den Bereich Stammzellen aus. In letzter Minute entschied es sich jedoch, embryonale Stammzellen des Menschen von der Förderung auszuschliessen – ohne ersichtliche wissenschaftliche Grundlage. Für Elena Cattaneo bedeutete das den kompletten Ausschluss aus dem Bewerbungsverfahren. Die oben genannte Stamina Foundation erhielt hingegen die jahrelange staatliche Förderung. Elena Cattaneo reichte beim Gericht Beschwerde ein, um die Förderung der Stamina Foundation anzufechten – der Entscheid über die Beschwerde ist hängig.

Die genannten Fälle zeigen auf, dass es Forschende braucht, die bereit sind, an die Öffentlichkeit zu gehen und sich auf politischer Ebene für eine transparente und evidenzbasierte Wissenschaft einzusetzen. Das ist natürlich vor allem bei medizinischen Themen augenfällig, weil die Gesundheit der Patienten auf dem Spiel steht. Zudem können Forschende durch ihren Einsatz auch private Erfolge verbuchen. So wurde die Stammzellforscherin Elena Cattaneo aufgrund ihres politischen Engagements im August 2013 vom italienischen Präsidenten zur Senatorin auf Lebenszeit erkoren, zusammen mit dem Nobelpreisträger für Physik Carlo Rubbia, dem Archi-tekten Renzo Piano und dem Dirigenten Claudio Abbado. Sie ist nun die jüngste Senatorin auf Lebenszeit der italienischen Geschichte und setzt sich im Senat für Entscheidungen auf Grundlage wissenschaftlicher Evidenz ein.

Mirko Bischofberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsratspräsidenten des SNF.

Stammzelltherapien in der Schweiz

Auch in der Schweiz gibt es medizinische Behandlungen ohne jegliche wissenschaftliche Grundlage: zum Beispiel Angebote, die eine Heilung neuronaler Krankheiten durch das Einspritzen völlig ungetesteter Stammzellen versprechen. So bot die Firma Beike aus Lugano für 50 000 Schweizer Franken einen medizinischen Transfer nach China an, wo den Patienten die Stammzellen verabreicht wurden. Auch die Firma Biogenesis Tech versprach dies, ebenfalls im Tessin; Mitgründer war Davide Vannoni, der in Italien die Stamina Foundation aufgebaut hatte. Die Biogenesis Tech ist im Handelsregister immer noch als aktiv eingetragen.