Bändiger der Informationsflut

Eine Flut voller Informationen. ©Fotolia

Durch die Digitalisierung von Kommunikation und Wissenschaft rücken akademische Bibliotheken näher und aktiver an den Wissenschaftsbetrieb. Das müssen sie, um die riesigen Mengen an Publikationen und Rohdaten fruchtbar zu machen. Von Stéphane Praz

(Aus "Horizonte" Nr. 104, März 2015)

"Eine Bibliothek ist ein wachsender Organismus", lautet Shiyali Ranganathans fünftes Gesetz der Bibliothekswissenschaften, zu deren Begründern der 1972 verstorbene Mathematiker zählt. Das Gesetz gilt noch heute. Allerdings scheint es inzwischen eine Untertreibung, lediglich von Wachstum zu sprechen, zumindest was das Angebot betrifft: Es explodiert.

Über das Internet können akademische Bibliotheken über Nacht riesige Bestände erschliessen – so sie über die finanziellen Mittel verfügen für den Zugang zu den grossen Verlagen. Neue Archivräume benötigen sie nicht, die Produkte lagern als Bits auf Serverfarmen irgendwo auf der Welt. Und der online erhältliche wissenschaftliche Ausstoss vermehrt sich so schnell wie nie: Alle neun Jahre verdoppelt er sich derzeit, hat eine ETH-Studie errechnet.

Die digitale Revolution hat die akademischen Bibliotheken verändert. Internationale Vernetzung und neue Interaktionsmöglichkeiten mit dem Kunden – Stichwort Bibliothek 2.0 – sind ein Teil davon. Doch die Veränderung ist viel weitreichender: "Die Digitalisierung verbindet uns Bibliotheken enger mit dem gesamten Wissenschaftsbetrieb als je zuvor», sagt Wolfram Neubauer, Direktor der ETH-Bibliothek Zürich. «Denn die Digitalisierung stellt die Wissenschaft vor neue Herausforderungen, für deren Bewältigung wir prädestiniert sind."

Am deutlichsten merken das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vielleicht beim Publizieren. Während sie dank der Open-Access-Bewegung viele Publikationen online, unentgeltlich und ohne Besuch der Bibliothek beziehen können, finden sie gleichzeitig den Weg in die Bibliothek, um ihre eigene Arbeit weltweit zu verbreiten. Denn die Bibliotheken publizieren im Auftrag der Hochschulen und Universitäten auf ihren Datenservern eine Vielzahl von eigenen Open-Access-Inhalten, von Dissertationen und Habilitationen über Tagungsbeiträge bis zu Zeitschriftenartikeln. Zudem beraten sie Wissenschaftler im Kontakt mit den grossen Open-Access-Verlagen wie PLOS und BioMed Central. Denn die eigene Arbeit als Open Access zu publizieren ist zwar attraktiv und immer häufiger Pflicht für Forschungserkenntnisse aus öffentlich finanzierten Projekten, doch auch im Umgang mit Open-Access-Zeitschriften stellen sich oft Fragen. «Viele Wissenschaftler beschäftigt vor allem das Renommee, das mit der einen oder anderen Zeitschrift und Publikationsform verbunden ist» sagt Nicolas Sartori, Open-Access-Spezialist an der Universitätsbibliothek Basel. «Und bei Erstveröffentlichungen als Open Access gibt es natürlich auch die Finanzierungsfrage.» Denn bei Open-Access-Zeitschriften fallen oft Kosten für den Autor an, der dafür jedoch langfristig gewinnt, wie Sartori betont: Der Zugriff auf die Ergebnisse der Arbeit ist rechtlich geklärt, die Publikationen verteilen sich schneller und werden häufiger zitiert.

Unterschiedliche Datenformate

Die publikationsreife Arbeit ist indes bloss die Spitze des Eisbergs. Darunter liegt eine riesige Menge Rohdaten: Heute erzeugt jedes Labor, jede Computersimulation mehr Daten pro Tag als noch vor kurzer Zeit ganze Universitäten pro Jahr. Diese Daten müssen archiviert werden. Das fordert die gute wissenschaftliche Praxis, denn schliesslich sollen Experimente und Überlegungen überprüfbar und nachvollziehbar bleiben. Auch diese Aufgabe wird zunehmend bei den Bibliotheken gebündelt – einzelne Institute können sie oft nicht mehr bewältigen. Zudem denken bisher nur wenige Forscher an Archivierungszeiträume von mehr als zehn Jahren, und einheitliche Vorgaben zur strukturierten Datenablage sind noch selten. Das zeigte eine Befragung der ETH-Bibliothek unter 450 Professoren und Forschungsgruppen.
"Wollen wir künftigen Generationen mehr als nur eine unermessliche, aber ebenso unbrauchbare Menge an Daten hinterlassen, dann müssen wir diese nach einheitlichen Standards organisieren", so Neubauer von der ETH-Bibliothek. Das Know-how in Datenmanagement bringen die Bibliotheken mit. Doch ohne den
engen Kontakt zum Wissenschaftsbetrieb geht nichts, wie sich im ETH-Pilotprojekt «Data Curation» erwiesen hat: Die Datenformate sind je nach Disziplin ebenso unterschiedlich wie die Bedürfnisse zu deren Strukturierung. "Gute Lösungen müssen wir teilweise für einzelne Projekte mit den Wissenschaftlern zusammen erarbeiten, im Idealfall noch bevor Daten überhaupt generiert werden", so Neubauer. Im angelsächsischen Raum hat sich bereits der Begriff des «embedded librarian» etabliert: in Forschungsteams eingebettete Spezialisten, die sich unter anderem um Strukturierung und Archivierung der Daten kümmern.

Verfeinerte SuchmethodenNoch bevor die Forschenden aber selber publizieren, bevor sie selber Daten generieren, müssen sie sich bereits vorhandenes Wissen aneignen. Die Bibliotheken stellen das Wissen zur Verfügung, sei es online oder vor Ort in der Bibliothek. Darüber hinaus sehen sie sich zunehmend als Vermittler der Informationskompetenz, die eine wissenschaftliche Recherche erst ermöglicht. "Informationskompetenz, nicht Benutzerschulung", das ist eine wichtige Unterscheidung für Thomas Henkel, Spezialist für Recherchetechnik an der Kantons- und Universitätsbibliothek Freiburg: "Wir orientieren uns nicht mehr nur an den eigenen Beständen, sondern machen Wissenschaftler fit für die Suche, Bewertung und Nutzung von Informationen im weltweiten Datendschungel."

Denn das Informationszeitalter hat die Fähigkeit, nach Informationen zu suchen, offenbar nicht gefördert. So kennen laut Henkel viele Studierende in Einführungskursen kaum mehr als die Google-Suche, und selbst promovierte Wissenschaftler verfügen oft nur über einfache Kenntnisse von Google Scholar, Web of Science oder Scopus. "Verfeinerte Suchmethoden, etwa mit Hilfe Boolscher Operatoren, sind vielen unbekannt", sagt Henkel. Ganz zu schweigen von speziellen Recherchetools wie etwa der Bildsuche nach chemischen Strukturen in Scopus, fachspezifischen Datenbanken und Literaturverwaltungsprogrammen. Diese Hilfsmittel sind heute fast unabdingbar für die effiziente Suche und Verwaltung wissenschaftlicher Literatur. Wolfram Neubauer sieht denn auch die fachspezifische Informationskompetenz als Grundvoraussetzung wissenschaftlichen Arbeitens: «Das muss integraler Bestandteil der Lehre werden» fordert er, "so wie es viele amerikanische Universitäten schon heute praktizieren." Voraussetzung dafür ist die enge Zusammenarbeit von Fakultäten und Bibliotheken.

Stéphane Praz ist freier Wissenschaftsjournalist.