Das Schwinden der Vielfalt

Eine Monokultur mit Mais. © Keystone

Wer bei der Biodiversität nur auf Zahlen schielt, schaut am Kern der Sache vorbei. Denn Vielfalt ist die Essenz des Lebens. Von Mathias Plüss

(Aus "Horizonte" Nr. 104, März 2015)​Da hat die Wissenschaft ein Problem: Die allermeisten Biologen sind davon überzeugt, dass derzeit ein globales Massensterben stattfindet. Aber sie tun sich schwer damit, es zu beweisen. Nur bei ein paar hundert Arten ist hieb- und stichfest nachgewiesen, dass sie ausgestorben sind.

Eine der Hauptschwierigkeiten sind die fehlenden Zahlen. Man kennt nicht einmal ansatzweise die Anzahl der Arten auf der Erde, geschweige denn ihre Bestandesgrössen. Bekannt sind bisher rund 1,8 Millionen Arten. Weil jedoch viele schwer zugängliche Gebiete wie die Tiefsee, abgelegene Dschungel oder auch viele Böden noch kaum untersucht sind, könnte die Gesamtzahl auch zehn- oder zwanzigmal so gross sein. Aber selbst bei wissenschaftlich beschriebenen Arten ist die Angelegenheit diffizil, ist doch ein Aussterbebeweis viel schwieriger zu erbringen als ein Existenzbeweis: Gerade bei seltenen Arten ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass man die letzten paar Exemplare übersehen hat. Entsprechend sind die Wissenschaftler vorsichtig, eine Art als ausgestorben zu deklarieren.

In der Not behilft man sich mit Schätzungen. Unbestritten ist, dass der Mensch artenreiche Ökosysteme wie den Regenwald grossflächig zerstört hat. Eine verbreitete Faustregel besagt nun, dass die Artenzahl eines Habitats auf rund die Hälfte sinkt, wenn seine Fläche um neunzig Prozent reduziert wird. Doch auch die Gültigkeit dieser Faustregel ist in der Praxis schwer nachweisbar. Erstens kann es sehr lange dauern, bis Arten aufgrund eines Eingriffs schliesslich aussterben; man spricht hier von der "Aussterbeschuld" ("extinction debt"), die noch über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende abzuzahlen sein mag. Zweitens hat man solche Faustregeln von Beobachtungen auf Inseln gewonnen. Und Ökosysteme am Festland unterscheiden sich von Inseln in einem entscheidenden Punkt: Arten können viel einfacher ein- und auswandern.

Die ganze Problematik zeigt sich exemplarisch anhand einer Arbeit, die ein Team um die Biologin Maria Dornelas von der Universität St. Andrews (Schottland) letztes Jahr in der Zeitschrift "Science" veröffentlich hat. In einer grossen Meta-Analyse von Zeitserien hat Dornelas die Artenentwicklung in zahlreichen lokalen Ökosystemen von den Polen bis zu den Tropen untersucht. Das Resultat hat ziemlich viel Staub aufgewirbelt: Nur in etwa vierzig Prozent der untersuchten Habitate hat die Zahl der Arten abgenommen – in den restlichen ist sie gleich geblieben oder hat gar zugenommen. Das tönt nach einer guten Nachricht, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Die andere, wichtigere Hälfte: Im Durchschnitt wurden in einem Ökosystem pro Jahrzehnt etwa zehn Prozent aller Arten ausgetauscht. Über die Details dieses Artentauschs erfahren wir aus der Arbeit zwar nichts. Aber die Erfahrung lehrt, dass bei solchen Prozessen die einwandernden Arten oft gerade die einzigartigen und seltensten einheimischen Arten verdrängen. Dies ist die wahre Bedrohung für die Vielfalt.

Zuwanderer aus dem Süden

"Wer nur mit Artenzahlen operiert, hat nicht verstanden, worum es bei der Biodiversität geht", sagt Daniela Pauli, die Geschäftsführerin des Forums Biodiversität, eines Experten-Netzwerks der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz. "Das Problem ist vielmehr die zunehmende Homogenisierung. Die Lebensräume und ihre Artengemeinschaften werden sich immer ähnlicher."

Statt von "Artensterben" würde man wohl besser vom "Verkümmern der Biodiversität" oder vom "Schwinden der Vielfalt" sprechen. Biodiversität umfasst viel
mehr als die reine Artenzahl – es geht um die Reichhaltigkeit und Verschiedenartigkeit von Organismen, Artengemeinschaften und Genpools. Gerade die Schweiz ist ein gutes Beispiel dafür, was vielerorts auf der Welt geschieht: Nur von wenigen Arten weiss man sicher, dass sie ausgestorben sind. Die gesamte Artenzahl hat in den letzten Jahren sogar noch zugenommen – vor allem dank Zuwanderern aus dem Mittelmeerraum wie etwa dem Bienenfresser, der wegen der Klimaerwärmung jetzt auch in der Schweiz brüten kann. Gleichzeitig aber sind die Bestände vieler einst häufiger Arten zusammengebrochen. Vom Wachtelkönig,
über dessen unermüdliches nächtliches Rufen sich die Menschen noch vor
hundert Jahren beschwerten, gibt es nur noch ein paar Dutzend Exemplare in der
Schweiz. Und der Frauenschuh, der einst bündelweise auf den Märkten im Jura verkauft wurde, ist heute zur absoluten Rarität geworden.

Und der Schwund geht weiter. "Im Moment wird die Rote Liste der Pflanzen überarbeitet", sagt Daniela Pauli. "Da hat man festgestellt, dass ausgerechnet die Bestände der Arten der höchsten Gefährdungsstufen am meisten abgenommen haben – das ist alarmierend." Das Hauptproblem sei nach wie vor die intensive Landwirtschaft, die etwa mit Dünger und Bewässerung viele Trockenwiesen mit ihren spezialisierten Pflanzen und Tieren zum Verschwinden bringe, zunehmend auch im Berggebiet. Die Gesamtfläche der Schweizer Trockenwiesen
hat seit 1990 um ein Drittel, seit 1900 gar um 95 Prozent abgenommen. Auch
den wenigen verbliebenen Mooren setzt der Dünger zu – viele trocknen zudem aus.
In der Folge breiten sich dort Allerweltspflanzen wie etwa Süssgräser aus. "Das
Spezifische geht verloren", sagt Pauli. "Die Artenzusammensetzung in Flachmooren
ähnelt immer mehr jener in gewöhnlichen Wiesen." Was zu tun ist, damit die Schweiz
ihre Vielfalt langfristig erhalten kann, wird derzeit im Rahmen des Biodiversitäts-Aktionsplans diskutiert (siehe Kasten).

Warum überhaupt sollen wir die Biodiversität schützen? Oft hört man als
Antwort ökonomische Argumente: Eine Urwaldpflanze ist ein potenzielles Medikament, ein seltener Wal vielleicht ein Touristenmagnet. Selbst ein unscheinbares Gras kann eine wichtige Dienstleistung erbringen: Botaniker der Universität Basel haben entdeckt, dass der Walliser Schwingel (Festuca valesiaca) mit seinem Wurzelgeflecht instabile Berghänge der Alpen und des Kaukasus vor Erosion schützt. Der Nutzen mancher Art erschliesst sich erst, wenn sie nicht mehr da ist: So startete Mao 1958 eine grosse Kampagne zur Ausrottung des Spatzen. Zwei Jahre später begannen die Chinesen wieder Spatzen aus der Sowjetunion zu importieren, weil die Populationen von Schadinsekten explodiert waren. Doch es kann heikel sein, mit dem Nutzen einzelner Arten zu argumentieren. Was soll man denn antworten, wenn ein Ökonom vorrechnet, dieses oder jenes Tier habe keinen Nutzen für den Menschen und könne getrost ausgerottet werden? Der wahre Wert der Vielfalt lässt sich nicht in Franken und Rappen berechnen. Vielfalt ist ein Wert an sich.

Gefundenes Fressen für Schädlinge

Ihre Vorteile können aber durchaus konkret sichtbar sein. Monokulturen jeder Art
sind generell anfällig. Die Iren waren im 19. Jahrhundert derart einseitig auf die
Kartoffel ausgerichtet, dass eine Million Menschen starben, als die Kartoffelfäule
auftrat. Bananen gehören heute grösstenteils zu einer einzigen Sorte, die Stauden
haben alle das gleiche Genom – ein gefundenes Fressen für Schädlinge, die bereits
stark im Vormarsch sind; die potenziellen Folgen sind katastrophal. Dem Sturm
Lothar und danach dem Borkenkäfer fielen vor allem Fichten-Monokulturen zum
Opfer – Mischwälder waren dagegen besser gewappnet. Ein letztes Beispiel: Eine Vielfalt an Wald-Säugetieren schützt erwiesenermassen vor der gefürchteten Zeckenkrankheit Borreliose. Denn wenn andere Säugetiere fehlen, befallen Zecken vor allem Mäuse, und diese sind der Hauptwirt für die Borreliose-Keime.
Vielfalt ist eine Art Lebensversicherung.

Vielfalt bedeutet: Es trifft nicht alle gleich stark. Vielfalt heisst: Es ist immer einer da,
der die Aufgabe übernimmt. Die Welt verändert sich, und niemand weiss, welche
Anforderungen in Zukunft gefragt sein werden. Wenn sich die Individuen einer
Art unterscheiden, so ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass eines darunter ist, das
den künftigen Umweltbedingungen gut angepasst ist – das ist die Grundlage der
Evolution. Und wenn eine Gemeinschaft viele hundert Arten beherbergt, so besteht
die Chance, dass zumindest einige darunter auch einen drastischen Wandel überleben und das Ökosystem dank ihnen funktionsfähig bleibt.

Als 1883 der Vulkan Krakatau mit einem gewaltigen Knall explodierte, fanden Biologen bereits ein Jahr später die ersten Grastriebe zwischen dem Vulkangestein.
1886 gab es auf dem Krakatau 15, 1897 schon 49 und 1928 fast dreihundert Arten
von Gräsern und Sträuchern. Eine solch eindrückliche Wiederbesiedlung wäre undenkbar ohne all die Spezialisten, die genau im richtigen Moment die richtigen Eigenschaften mitbringen. In jeder erdenklichen Situation, in jedem Winkel der Erde. "Biologische Vielfalt", schrieb der Biologe Edward O. Wilson, "ist der Schlüssel zur Erhaltung der Welt, wie wir sie kennen."

Mathias Plüss schreibt als freier Journalist über die Naturwissenschaften und über Osteuropa.

Biodiversitätsstrategie

Im Jahr 2012 hat der Bundesrat eine Biodiversitätsstrategie für die Schweiz
verabschiedet. Sie umfasst zehn strategische Ziele, die alle Ebenen der Biodiversität
betreffen – etwa "Verbesserung des Zustands von national prioritären Arten",
"Erhaltung und Förderung der genetischen Vielfalt" und "Einrichtung einer ökologischen Infrastruktur von Schutzgebieten und Vernetzungsgebieten". Inzwischen liegt der Entwurf für den zugehörigen Aktionsplan 2020 vor, an dem Hunderte von Fachleuten mitgearbeitet haben. Der Aktionsplan mit seinen Massnahmen muss noch vom Bundesrat verabschiedet werden.

Literatur

M. Dornelas et al. (2014): Assemblage time series reveal biodiversity change but not
systematic loss. Science 344: 296–299. T. Lachat, D. Pauli, Y. Gonseth, G. Klaus,
C. Scheidegger, P. Vittoz & T. Walter (Red.; 2010): Wandel der Biodiversität in der
Schweiz seit 1900. Ist die Talsohle erreicht? Haupt-Verlag.