"Es ist eine gefühlte Revolution"

Digital Humanities sind nur neue Methoden, ermöglichen aber neue Fragestellungen, sagt der Geisteswissenschaftler Gerhard Lauer. Der Literaturwissenschaftler gehört zu den Vordenkern in der Verwendung computerbasierter Analysen, obwohl er sich als konservativ bezeichnet. Von Urs Hafner

(Aus "Horizonte" Nr. 105, Juni 2015)

Herr Lauer, unter den Begriff Digital Humanities fällt vieles. Was verstehen Sie darunter?

Ganz praktisch: Die Verwendung computerbasierter Methoden für die Realisierung digitaler Editionen und für die eher quantitative Analyse grosser Textmengen.

Hat sich Ihre Forschung durch die Digital Humanities verändert?

Ja, aber nicht abrupt. Die Digital Humanities beginnen die geisteswissenschaftliche Forschung zu verändern, indem sie das Spektrum der Methoden und Fragen nach und nach erweitern. Um mein Gebiet zu nehmen, die Literaturwissenschaft: Wir fangen an, die Literatur quantitativ zu analysieren, Goethes "Werther" etwa oder Kafkas Erzählungen. Die Nachfrage der Studierenden nach computerbasierten Methoden nimmt zu, und ich betreue nun erste Bachelorarbeiten aus diesem Bereich.

Der Text ist traditionell das Herzstück der Geisteswissenschaften. Diese analysieren den manifesten und latenten Sinn von Texten und stellen ihre Erkenntnisse narrativ und argumentativ zur Diskussion. An dieser Dimension des Textes zielen die Digital Humanities vorbei.

Auf den ersten Blick haben Sie recht: Sie zählen vor allem Wörter. Aber deren Verteilung in Texten sagt eben etwas über diese Texte aus. Aus dem Wortprofil einer Person beziehungsweise ihrer Texte lässt sich viel über diese Person lernen. Wir meinen, der Gebrauch von Artikeln oder Pronomen würde wenig aussagen, doch das Gegenteil trifft zu.

Welche neuen Erkenntnisse haben Sie dank den Digital Humanities gewonnen?

Wir achten nun zum Beispiel darauf, wie viele lange und kurze Wörter Kafka im Vergleich mit anderen Autoren seiner Zeit verwendet oder wie er bestimmte Funktionsworte genutzt hat. Aus der statistischen Verteilung von Worthäufigkeiten in seinen Erzählungen lässt sich das Besondere seines Stils festmachen. Häufigkeiten der Wortverwendung sagen uns auch etwas darüber, welcher Epoche ein Werk angehört. Und wir untersuchen nicht mehr nur den Kanon, nicht beispielsweise nur Goethes "Wahlverwandtschaften", sondern die vielen anderen Bücher, die damals auch gelesen wurden. So rückt die Kulturgeschichte des Gelesenen und nicht nur der Kanon in den Blick. Das sind erste Einsichten, noch keine grundstürzenden Erkenntnisse. Neu sind zunächst die Methoden.

Ist die historisch-hermeneutische Analyse dem Wörterzählen nicht überlegen?

Im Moment mag das noch so sein, doch das ändert sich mit den Ergebnissen, die wir Schritt für Schritt gewinnen. Wir erkennen immer deutlicher Textmuster, aus denen wir die Entwicklung der menschlichen Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, ablesen können. Daraus lassen sich neue Fragen gewinnen, zum Beispiel zum Unterschied zwischen europäischen und asiatischen Erzählweisen.

Wie gehen Sie vor, wenn Sie herausfinden wollen, was die Leute in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelesen haben?

Wir werten verschiedene Quellen und Metadaten aus, die aus zusammengetragenen Bibliothekskatalogen bestehen. Daraus können wir ableiten, welche Bücher gedruckt, angeschafft, von den Leuten ausgeliehen und wahrscheinlich gelesen wurden. Oder wir benutzen den Ngram-Viewer von Google, mit dem sich fast fünf Millionen Bücher in verschiedenen Sprachen durchsuchen lassen.

Aber die Ngram-Analyse ist eigentlich selektiv: Die Kriterien, nach denen Google Bücher digitalisiert oder eben nicht digitalisiert hat, sind nicht bekannt.

Das stimmt. Die Korpora, mit denen wir arbeiten, sind oft nicht systematisch und statistisch ausbalanciert erstellt worden. Google Books ist besonders problematisch, weil Google wahllos ganze Bibliotheken von vorn nach hinten durchdigitalisiert hat. Das ist kein Korpus. Damit definiert die Firma aber, was unser kulturelles Erbe ist. Daher ist es Aufgabe der Universitäten und Bibliotheken, sich dafür einzusetzen, dass das kulturelle Erbe nicht privatisiert wird und quellenkritisch bewertet werden kann. Dieser kulturpolitischen Herausforderung stellen wir uns in den Geisteswissenschaften zu wenig.

Viele Anhänger der Digital Humanities sprechen von einer Revolution. Sie auch?

Die Digitalisierung ist eine Revolution, die Digital Humanities sind keine. Die Geisteswissenschaften transformieren sich, so wie sich die Chemie, die Physik, die Medizin und die Biologie transformiert haben, als sie computerbasierte Methoden integrierten. Die Biologie hat sich mit dem Einsatz des Computers stark verändert,
ohne dass sie sich als Disziplin aufgegeben hätte. Das Gleiche wird mit den Geisteswissenschaften passieren. Die Archäologie und die Sprachwissenschaft haben diesen Schritt bereits gemacht. Die Digital Humanities sind sozusagen eine gefühlte Revolution: Etwas Neues kommt, besonders Zahlen und Statistiken, mit denen viele Fächer noch nicht umzugehen wissen.

Sie geben die Naturwissenschaften als Vorbild an, die seit längerem quantitativ arbeiten. Eifern die Geisteswissenschaften diesen nach, um mehr Fördergelder zu erhalten?

Man muss zwischen zwei gegenläufigen Interessen unterscheiden. Einerseits richtet
sich die Förderpolitik an Trends aus, an dem, was verspricht, das nächste Neue zu
sein. Die Digital Humanities scheinen zurzeit ein vielversprechendes Gebiet zu sein,
in das daher Geld investiert wird. Andererseits ist es schwierig, in diesem Bereich in
den etablierten Fakultäten eine Anstellung zu finden. Diese sind oft zurückhaltend
und stellen eher jemanden ein, der dem traditionellen geisteswissenschaftlichen
Selbstverständnis entspricht. Wenn Sie so wollen, modernisieren sich die Geisteswissenschaften mit angezogener Handbremse. Anders sieht es im Bibliotheksund Editionswesen aus.

Fühlen Sie sich als Teil einer Avantgarde?

Nein, aber ich werde – zusammen mit anderen – in diese Rolle gedrängt, obschon
ich ein eher konservativer Literaturwissenschaftler bin. Natürlich kennen sich
in einem neuen Feld fast alle, und dabei entsteht ein Gruppengefühl. Ich habe
Kontakte auch zu den Schweizer Zentren in Lausanne, Basel und Bern. Die Digital
Humanities sind ihrer Methodik wegen kollaborativer, als es die Geisteswissenschaften üblicherweise sind.

Kümmern sich die Digital Humanities genug um die Reflexion darüber, wie
sich beispielsweise mit dem Einsatz des Digitalen der Status des Texts ändert, wie er sich sozusagen verflüssigt?

Da gibt es Defizite, weil die grundsätzlichen Fragen und die praktische Arbeit vielfach noch nicht zusammengeführt worden sind, so viel auch über die algorithmische Kritik und den Text als digitalen debattiert wird. Sie dürfen jedoch nicht vergessen, dass wir erst am Anfang und oft am Rand stehen und noch nicht auf eine gesicherte Methodologie zurückgreifen können.

Die Geisteswissenschaften insgesamt stehen auch am Rand.

Wenn sie so weitermachen wie bisher, haben sie keine glänzende Zukunft. Sie sind
in einer schwierigen Lage. In den angelsächsischen Ländern erhalten sie kaum
mehr öffentliche Gelder und müssen sich fast vollständig durch die Studiengebühren
finanzieren.

Sehen Sie die Digital Humanities als Rettungsanker?

Nein, das sind sie nicht, aber sie sind im besten Fall ein Teil der Lösung. Die grosse
Frage, was die Geisteswissenschaften in Zukunft lehren wollen, müssen diese unabhängig von den digitalen Methoden beantworten, aber mit Blick auf die dramatischen Veränderungen, die uns die digitale Modernisierung abverlangt.

Urs Hafner ist Historiker und Wissenschaftsjournalist und ehemaliger Chefredaktor von "Horizonte".