Fliegen, wollt ihr ewig leben?

Den Heiligen Gral wird wohl kein Mensch je finden. Doch Schweizer Forscher fahnden nach den Zutaten für ein längeres Leben – in den Genen von Fliegen und Ameisen. Von Simon Koechlin

(Aus "Horizonte" Nr. 105, Juni 2015)"Jeder möchte lange leben, aber keiner will alt werden", schrieb der irische Schriftsteller Jonathan Swift schon um das Jahr 1700. Daran hat sich seither nichts geändert. Tatsächlich leben die Menschen heutzutage länger als je zuvor, vor allem dank verbesserter Ernährung und Hygiene und enormer Fortschritte in der Medizin und Gesundheitsvorsorge. Doch alt werden wir alle. Mit den Jahren verschlechtert sich der Allgemeinzustand des Körpers. Die Anfälligkeit auf Krankheiten steigt und damit auch das Sterberisiko.

Doch warum eigentlich? Die Evolution hat den extrem komplexen, regulierten Entwicklungsprozess hervorgebracht, von der befruchteten Eizelle zum kompletten Individuum. Weshalb sollte es dann der natürlichen Selektion nicht auch möglich sein, den fertig entwickelten Körper auch im Alter – oder gar für ewig – in einem jungen Zustand zu erhalten? Weshalb sind Organismen nicht unsterblich?

"Diese Fragen hat man sich schon im Altertum gestellt", sagt der Biologe Thomas Flatt von der Universität Lausanne, der die Evolution der Alterung erforscht. Der römische Dichter und Philosoph Lukrez etwa sei davon ausgegangen, dass der Tod dazu diene, der neuen Generation Platz zu machen. Als überholt gilt diese Sichtweise erst seit etwa der Mitte des letzten Jahrhunderts, als die moderne evolutionäre Theorie der Alterung entwickelt wurde.

Keine Selektion bei Alten

Diese Theorie erklärt die Evolution der Alterung mit der natürlichen Selektion von Individuen und nicht mit Vorteilen für die Art. Sie geht davon aus, dass das Leben im wahrsten Sinn des Wortes lebensgefährlich ist. In der Natur fallen früher oder später fast alle Individuen Fressfeinden, Konkurrenten, Krankheitserregern oder Unfällen zum Opfer. Das bedeutet, dass die natürliche Selektion im Alter kaum mehr eine Rolle spielt.

Angenommen, es gibt bei einem Menschen zwei tödliche Mutationen im Erbgut, wobei die erste nach 20 Lebensjahren zum Tod führt, die zweite erst nach 90 Jahren. Die Selektion bewirkt, dass die erste Mutation schnell wieder aus der Bevölkerung verschwindet – denn ihre Träger werden kaum Kinder haben. Die zweite Mutation hingegen hat keinen Einfluss darauf, wie viele Nachkommen ein Mensch in seinem Leben zeugen kann. "Aus diesem Grund können sich im Laufe der Generationen Mutationen im Genom anhäufen, die erst spät im Leben Schäden verursachen würden", sagt Flatt. Wenn sich nun die Lebensbedingungen verbessern, zum Beispiel bessere Ernährung, und Individuen länger leben, dann können sich diese genetischen Spätschäden manifestieren: Die Gesundheit im Alter nimmt ab.

Laut Flatt bedeutet dies, dass Alterung letztlich wohl unvermeidbar ist. Tatsächlich weisen Experimente und mathematische Modelle darauf hin, dass sogar Bakterien und andere Einzeller, die lang für unsterblich gehalten wurden, altern. Trotzdem, sagt Flatt, gebe es noch viele offene Fragen. Einigen davon ist der Forscher selber auf der Spur. Am Beispiel der Taufliege Drosophila melanogaster möchte Flatt herausfinden, welche Gene und welche physiologischen Mechanismen dazu beitragen, dass einige Individuen länger leben als andere.

Begrenztes Immunsystem

Dazu untersucht er unter anderem die Funktion und Aktivität von Genen in Fliegen, bei denen seit über 30 Jahren die langlebigsten weitergezüchtet werden. Sie werden durchschnittlich 70 Tage alt – statt 45 Tage wie eine normale Laborfliege. "Wir fanden auffällig viele Unterschiede in Genen, die mit dem Immunsystem zu tun haben", sagt Flatt. Wie genau diese Unterschiede sich auf die Lebensspanne auswirken, weiss der Forscher noch nicht. Interessant sei aber, dass die kurzlebigen Fliegen im Alter ihre Immunantwort hochfahren, was zu einer chronischen Entzündung führen kann. Langlebige Fliegen dagegen scheinen anfänglich ein aktiveres Immunsystem zu haben, das sie aber im Alter herunterschrauben.

Nicht nur das Immunsystem kann aber die Lebensspanne beeinflussen, sondern auch die Fortpflanzung. Jedes Individuum hat nur eine limitierte Menge an Energie zur Verfügung – wer viel davon für die Reproduktion aufwendet, dem fehlt Energie für die Investition in Überlebensfunktionen. Forscher konnten dies bei Taufliegen schön aufzeigen. Wenn man Taufliegen auf die Fähigkeit selektiert, sich sehr spät im Leben noch fortzupflanzen, verdoppelt sich die Lebensspanne der Tiere nach ein paar Generationen. "Dafür haben diese Fliegen Probleme, wenn sie schon früh im Leben Nachwuchs zeugen sollten", sagt Flatt. "Die Energie kann also entweder in die Fortpflanzung oder die Überlebensfunktionen investiert werden, aber nicht in beides." Dieses im Fachjargon "trade-off" genannte Prinzip ist allgegenwärtig. Ein Extrembeispiel ist der Pazifische Lachs, der nach der Laichablage so erschöpft ist, dass er stirbt.

Allerdings gibt es Ausnahmen, die den Forschern Kopfzerbrechen bereiten. Die Königinnen einiger sozialer Insekten produzieren nicht nur Eier am Laufmeter – sie leben auch viel länger als nicht soziale Insekten. Bei der in der Schweiz weit verbreiteten Schwarzen Wegameise etwa könne die Königin bis zu 30 Jahre alt werden – 500 Mal älter als ein durchschnittliches Insekt, sagt der Ameisenspezialist Laurent Keller von der Universität Lausanne. Wie Ameisenköniginnen das schaffen, weiss man nicht. Kellers Gruppe untersucht momentan die Genaktivität von Königinnen verschiedenen Alters, um dies herauszufinden.

Preis des Anti-Aging

Darauf zu hoffen, im Erbgut einer Ameise die Quelle der ewigen Jugend zu finden, wäre allerdings wohl etwas übertrieben. Denn zum einen profitiert die Ameisenkönigin von einem ganz besonderen Schutz: Der Ameisenstaat errichtet eine regelrechte Festung, in der sie vor Feinden und anderen äusseren Einflüssen geschützt ist. Und wer sich schützt, wird älter, das zeigen Studien bei diversen Tierarten. "Giftschlangen leben länger als ungiftige, Schildkröten mit hartem Panzer länger als solche mit weichem – und Vögel, die fliegen können, leben länger als flugunfähige", sagt Thomas Flatt.

Zum anderen deutet vieles darauf hin, dass die Kosten für eine längere Lebensspanne immer da sind – auch wenn sie nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich sind. Ein gutes Beispiel ist laut Flatt eine Mutation beim Fadenwurm Caenorhabditis elegans. Würmer mit dieser Genvariante sind äusserst langlebig und haben keinerlei Fertilitätsprobleme. Als Forscher die Mutanten allerdings in Konkurrenz mit Wildtypen aufwachsen liessen, verloren sie den Überlebenskampf jedes Mal und starben aus. "Weshalb, weiss man bis heute nicht", sagt Flatt. "Aber irgendeinen Nachteil hat auch diese Mutation."


Simon Koechlin ist Wissenschaftsjournalist und Chefredaktor der "Tierwelt".