Nur fremd oder doch schädlich?

Invasive Tier- und Pflanzenarten stellen Naturschützer, Förster und Landwirte vor immense Probleme. Nun haben Forschende eine Methode entwickelt, mit der sich abschätzen lässt, welche Arten besonders gefährlich sind. Von Simon Koechlin

​(Aus "Horizonte" Nr. 106, September 2015)
Bild: Konrad Lauber,Flora Helvetica @ 2007 Haupt Bern

Ihre Namen klingen verheissungsvoll und exotisch: Rotwangen-Schmuckschildkröte, Asiatischer Laubholzbockkäfer, Götterbaum oder Riesen-Bärenklau. Und diese Tier- und Pflanzenarten zählen zu den meistverfolgten in der Schweiz. Zollbeamte, Stadtgärtnereien und Naturschutzvereine landauf, landab versuchen, sie aufzuspüren, einzufangen oder auszugraben. Denn sie stehen auf der Liste jener Arten, die im Fachjargon als "invasiv" bezeichnet werden. Dabei handelt es sich um Tier- und Pflanzenarten, die einst vom Menschen absichtlich eingeführt oder unabsichtlich eingeschleppt wurden und sich hier nun ausbreiten. Sie verdrängen einheimische Arten, verursachen Schäden in der Land- und Forstwirtschaft oder führen sogar zu Gesundheitsproblemen beim Menschen.

Bekämpfen ist teuer und aufwendig

Die Anzahl der problematischen Arten ist so gross, dass die ökologischen und gesellschaftlichen Folgen faktisch unüberschaubar sind. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) hat über 800 gebietsfremde Arten gezählt, die sich in der Schweiz etabliert haben. Mehr als 100 gelten als invasiv. In ganz Europa wird die Anzahl nicht einheimischer Arten gar auf über 12 000 geschätzt, davon ist ungefähr jede zehnte invasiv. Die EU hat auf Anfang dieses Jahres eine neue Verordnung in Kraft gesetzt und gibt momentan mehr als zwölf Milliarden Euro pro Jahr aus, um invasive Arten zu bekämpfen und deren Schäden zu beseitigen – und die Kosten steigen weiter.

Angesichts solcher Grössenordnungen stellt sich die Frage, wo die Politik die Prioritäten setzen soll. Sollen das Geld und die Ressourcen eher eingesetzt werden, um die Wandermuschel zu bekämpfen, die heimische Muscheln verdrängt sowie Wasserleitungen und Schleusen verstopft? Oder besser gegen den Maiswurzelbohrer, der ganze Maisfelder vernichten kann? Was ist wichtiger, dass ein Naturschutzgebiet nicht ganz vom Riesen-Bärenklau überwuchert wird oder dass ein Stadtpark nicht vom Kot von Kanadagänsen übersät ist?

Aktionen sind zu unkoordiniert

Mit diesen Fragen tun sich die Behörden schwer – auch in der Schweiz. Die Naturschutzorganisation Pro Natura schreibt in einem 2013 publizierten Standpunkt: "Bei den bestehenden Konzepten fehlen oft eine klare Zielsetzung, eine Priorisierung der zu bekämpfenden invasiven gebietsfremden Arten sowie eine Definition von Lebensräumen, in denen die knappen finanziellen Mittel prioritär eingesetzt werden sollen." Wolfgang Nentwig, Ökologe an der Universität Bern und einer der bekanntesten Forscher auf dem Gebiet, teilt diese Meinung: "Es wird leider zu wenig unternommen."

Allerdings ist es auch schwierig, Prioritäten zu setzen, weil es an Methoden fehlt, mit denen sich die Auswirkungen von invasiven Arten verlässlich abschätzen lassen und die ermöglichen, zwischen unterschiedlichen Gruppen von Lebewesen wie Säugetieren und Pflanzen zu vergleichen. An der Entwicklung solcher Methoden arbeitet ein Konsortium von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, an dem Nentwig und seine Mitarbeitenden an der Universität Bern beteiligt sind. Sie haben eine Art Schadensrating entwickelt, das folgendermassen funktioniert: Sie suchen nach bereits bestehenden Studien über Auswirkungen eingeschleppter Arten. Dabei kann es sich sowohl um bezifferbare Effekte handeln als auch um solche, die von Fachpersonen eingeschätzt wurden. Aufgrund dieser quantitativen und qualitativen Daten werden die Auswirkungen jeder einzelnen Art in zwölf verschiedenen Kategorien eingeschätzt: zum Beispiel auf Tiere, auf die Vegetation, auf die Landwirtschaft, auf die Forstwirtschaft oder auf die menschliche Gesundheit.

Säugetiere schaden mehr als Pflanzen

In einer kürzlich publizierten Studie haben Nentwig und seine Kollegen mit diesem Instrument 300 gebietsfremde, in Europa etablierte Arten – Säugetiere, Vögel, Fische, Gliederfüsser und Pflanzen – untersucht und verglichen. Es zeigte sich, dass eingeschleppte Säugetiere im Durchschnitt die gravierendsten Auswirkungen haben – sowohl auf die Umwelt als auch auf die Wirtschaft und die Gesellschaft. Am wenigsten Schaden richten demnach Fische an. Säugetiere seien in einem Ökosystem oft von besonderer Bedeutung, unter anderem wegen ihrer Grösse und Anpassungsfähigkeit und weil sie über ein breites Nahrungsspektrum verfügten, sagt Sabrina Kumschick, die Erstautorin der Studie. Sie hat ihre Dissertation an der Universität Bern geschrieben und forscht heute am Zentrum für Invasionsbiologie an der Universität Stellenbosch in Südafrika. "Von daher hat uns die Position der Säugetiere in unserer Bewertung nicht wirklich überrascht."

Das Beurteilungsinstrument erlaubt es in Zukunft den Behörden, die Folgen verschiedener invasiver Arten besser zu vergleichen und die Ressourcen zum Schutz heimischer Arten gezielter einzusetzen. Gian-Reto Walther, beim BAFU zuständig für die gebietsfremden Arten, ist denn auch "dankbar" für derartige praxisnahe Forschungsarbeiten, wie er sagt. Besonders wertvoll sei, dass die neue Methode Vergleiche zwischen unterschiedlichen Gruppen von Lebewesen erlaube. Mit bisherigen Systemen habe man beispielsweise Pflanzen mit Pflanzen vergleichen können, aber nicht Pflanzen mit Säugetieren. Dass die Schweiz zu wenig unternehme, findet Walther nicht: "Schon jetzt laufen viele Aktionen gegen invasive Arten." Oft seien sie aber noch nicht genügend koordiniert. Das werde sich aber ändern: Momentan ist das BAFU daran, eine "Strategie gegen invasive gebietsfremde Arten" zu erarbeiten.

Jemand muss entscheiden

Dass die Bekämpfung der ungebetenen Eindringlinge eine Herkulesaufgabe sein wird, ist allen Experten klar. Zumal die Zuständigen zum Teil gar nicht wissen, wie sie vorgehen sollen: "Nach dem derzeitigen Wissensstand sind viele Arten gar nicht mehr auszurotten", sagt Nentwig. Ein Beispiel dafür ist der Japanknöterich, der aus Ostasien stammt und sich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts in Europa sprunghaft ausbreitet. In der Schweiz ist heute nur noch das Oberengadin frei von diesem wuchsfreudigen, robusten Gewächs. Und weil der Japanknöterich noch aus dem winzigsten unterirdischen Sprossstückchen wieder austreiben kann, ist ihm kaum beizukommen.

Schadensratings sind immerhin ein Puzzlestück, das dazu beiträgt, die Kräfte im Kampf gegen invasive Arten zu bündeln und Prioritäten zu setzen. Darum haben Nentwig und Kumschick auch vor, ihre Methode weiterzuentwickeln. Doch mehr als eine Entscheidungshilfe werden die Beurteilungslisten nie sein: Denn was für die Gesellschaft wichtiger ist, ein Park ohne Gänsekot oder ein Naturschutzgebiet ohne Riesen-Bärenklau, das muss auch in Zukunft stets jemand vor Ort entscheiden.