Im Darm der Stadt

Die Abwasserkanäle von Zürich verraten, welche Drogen die Stadtbewohner konsumieren. Die Umweltingenieurin Ann-Kathrin McCall steigt zur Probenentnahme regelmässig in den Untergrund. Von Christian Weber

​(Aus "Horizonte" Nr. 106, September 2015)
Bild:Aldo Torado © Eawag

"Nein, Ratten gibt es da unten nicht. Sie könnten gar nicht laufen, die Röhre ist bis zur Wand knietief mit Wasser gefüllt. Und ja, es stinkt, aber daran gewöhnt man sich. Manchmal schwimmen seltsame Dinge vorbei, Zahnersatz etwa. Häufiger sind natürlich Klopapier und Kot – das ignoriere ich einfach. Entscheidend ist, dass der Abwasserkanal ein superspannender Ort ist! Wissenschaftlich gesehen.

Es ist sehr rutschig unten. Aber mir ist noch nie etwas passiert, nur einmal bin ich auf dem Hintern gelandet. Meine Ausrüstung besteht aus beinlangen Gummistiefeln, Schutzanzug, Helm und Mundschutz. Dazu sichert mich ein Drahtseil, das über dem Kanaldeckel angekettet ist. Ausserdem warnt mich ein kleines Gerät, sobald giftiges Kohlenmonoxid oder Schwefelwasserstoff aufsteigen sollte. Wirklich anstrengend ist nur, dass ich mit meinen 1,80 Metern die meiste Zeit gebückt arbeiten muss. So ein Kanal ist oft kleiner als 1,50 Meter. Da tut mir nach einer halben Stunde Probenentnahme schon mal der Rücken weh.

Grundlage meiner Arbeit ist, salopp gesagt, dass alle Drogenkonsumenten auch mal aufs Klo müssen. Mit ihrem Urin gelangen die Rückstände und Stoffwechselprodukte von Amphetaminen, Ecstasy und Kokain ins Wasser. Das muss man nur chemisch analysieren, und schon weiss man, was in einer Stadt so eingeworfen wird. Theoretisch ist alles messbar, was Menschen ausscheiden, auch Alkohol, Koffein, Schwangerschafts- oder Stresshormone. Im Abwasserkanal findet sich ein Fingerabdruck der Gesellschaft.

Das Problem ist, dass die illegalen Drogen und ihre Metaboliten beim Weg von den Toiletten bis zum Klärwerk von Mikroorganismen und anderen chemischen und physikalischen Prozessen verändert werden. Was da genau passiert, will ich mit meiner Forschung herausfinden. Dann können die Proben aus der Kläranlage noch zuverlässiger interpretiert werden. Besonders wichtig ist bei den Umwandlungsprozessen der Biofilm, der auf den Kanalwänden vor allem dort wächst, wo das Abwasser konstant entlangfliesst. Der Biofilm ist etwa ein Zentimeter dick, sehr schleimig und eben rutschig. Darin leben die Bakterien, Algen, Pilze und andere Mikroorganismen, die unter anderem auch Drogen umwandeln können.
In den Abwasserkanal steige ich vor allem, um Biofilmproben zu nehmen. Der Grossteil meiner Arbeit findet dann im Labor des Wasserforschungsinstituts Eawag in Dübendorf statt. Da habe ich eine Art künstlichen Kanal aufgebaut, in dem ich unter kontrollierten Bedingungen beobachten und messen kann, was der Biofilm mit standardisierten Drogenproben anrichtet.

Alle europäischen Länder sind interessiert daran, die Trends des Drogenkonsums abzuschätzen. 2014 hat unsere internationale Arbeitsgruppe eine erste grosse Studie vorgestellt, bei der in 42 europäischen Städten je eine Woche lang die Werte von fünf Drogen im Abwasser gemessen wurden. Da kam zum Beispiel heraus, dass Zürich nach Antwerpen und Amsterdam den höchsten Kokainkonsum hat. Weniger überraschend ist, dass es in Zürich am Wochenende einen Ecstasy-Peak gibt oder dass wir nach einer Streetparade auch ganz exotische Drogen finden. Die Abwasseranalytik ist bei der Abschätzung von Drogentrends bereits jetzt besser und vor allem auch schneller als anonyme Umfragen.

Wenn ich auf einer Konferenz eine Präsentation mache, fange ich deshalb oft mit einem Witz an. Ich frage das Publikum, wer denn schon mal Kokain genommen hat. Meist hebt dann niemand die Hand. Dann sage ich: Sehen Sie, deshalb brauchen wir meine Methode."