Wissen attackieren ist gefährlich

Von Thierry Courvoisier

(Aus "Horizonte" Nr. 107 Dezember 2015)​​​

In den letzten Monaten tauchten in politischen Debatten feindselige Äusserungen gegenüber den Geisteswissenschaften und dem akademischen Wissen allgemein auf. Das Hauptargument war, dass Absolventen unserer Universitäten – vor allem die Absolventen der Geistes- und Sozialwissenschaften – wenig zur wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes beitrügen. Die entsprechenden Statistiken wurden in den Medien breit diskutiert, aber die Zahlen machten nicht den Eindruck, als stiessen frisch Diplomierte auf besondere Schwierigkeiten.

Die Attacken hinterlassen einen bitteren Geschmack. Richten sich solche Vorwürfe gegen einzelne wissenschaftliche Disziplinen, so entsteht der Eindruck, Bildung und Wissen in diesem speziellen Bereich würde stören; als wünschten sich die Urheber der Attacken bei ihren Mitmenschen eher Unwissen als geisteswissenschaftliche Kompetenzen. Aber eine Gesellschaft, in der gewisse Fachkenntnisse verboten oder zumindest erschwert werden, läuft Gefahr, genau jenen in die Hände zu fallen, die entscheiden wollen, was studiert werden darf und was nicht. Die Geschichte hat gezeigt, dass unsere Fähigkeiten, die Rolle einzelner wissenschaftlicher Erkenntnisse bei zukünftigen Entwicklungen vorauszusagen, sehr bescheiden sind. Wer hätte zum Beispiel um 1930 gedacht, dass die allgemeine Relativitätstheorie, deren Bedeutung auf die Fächer Physik und Kosmologie beschränkt schien, einmal Handeine Schlüsselrolle bei der Positionierung mittels GPS spielen könnte?

Es ist erstaunlich, dass Attacken auf die Wissenschaften häufig von Personen ausgehen, die anderweitig den freien Willen predigen und überzeugt sind, dass "der Markt" bessere Entscheide für die Gesellschaft trifft als alle Kontrollorgane. Ich teile deren Meinung nicht, wäre aber bei sich für wirtschaftsliberal haltenden Menschen davon ausgegangen, dass sie auch die freie Wahl beim Studium und der Berufsbildung zu schätzen wissen.

Unsere Gesellschaften stehen vor grossen Herausforderungen: Energiewende, Gesundheitssystem, Schwund der Biodiversität und Klimawandel, um nur einige zu nennen. Die Bewältigung dieser Herausforderungen verlangt nach Fachkenntnissen in allen Wissensbereichen – inklusive der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die zu entwickelnden Lösungen für Probleme, die die menschlichen Aktivitäten auf diesem Planeten mit sich bringen, gründen sicher auf Beiträgen der Physik, Chemie, Geologie, Biologie, Medizin und Ingenieurwissenschaften. Aber es wird auch nötig sein, die Art, wie unsere Gesellschaften funktionieren, grundlegend zu verändern. Diese Veränderungen werden nur dann einigermassen harmonisch ablaufen, wenn wir zuverlässiges Wissen über die Psychologie der Bewohner des Planeten haben sowie über die ökonomischen und gesellschaftlichen Mechanismen. Um das Überleben unserer Zivilisationen zu sichern – falls dieses Ziel überhaupt erreichbar ist –, müssen wir die Beiträge der Geistes- und Sozialwissenschaften in unsere Überlegungen mit einbeziehen.

Thierry Courvoisier ist Professor für Astrophysik an der Universität Genf und abtretender Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz.