"Ich sehe keine Alternative zum multilateralen Weg"

Flüchtlingsströme, Klima-erwärmung, Eurokrise – viele Probleme werden heute in Verhandlungsmarathons zerredet statt gelöst, so scheint es. Die Historikerin Madeleine Herren-Oesch sieht das anders. Von Anita Vonmont

(Aus "Horizonte" Nr. 108 März 2016)​​​

Frau Herren-Oesch, grosse internationale Konferenzen enden heute oft unverbindlich, höchstens mit Absichtserklärungen. Sind Nägel mit Köpfen wie 1987 das weltweite Verbot der ozonzerstörenden FCKW-Treibgase noch möglich?

Die ganz konkreten, verbindlichen Entscheide sind tatsächlich schwieriger geworden. Heute haben wir es mit viel mehr Akteurinnen und Akteuren zu tun als noch vor 30 Jahren. Am Verhandlungstisch bestimmen nicht nur die Politiker und Diplomatinnen des Westens das Geschehen. Auch Entwicklungs- und Schwellenländer haben Gewicht und müssen gleichzeitig in die Pflicht genommen werden. Eine internationale Zivilgesellschaft und deren Interessenverbände gestalten die Debatte mit. Regionale Unterschiede müssen berücksichtigt werden. Die Verhandlungen und Entscheidungsgrundlagen sind komplex, und dies erschwert die Konsensfindung.

Am Klimagipfel von Paris letzten Dezember wurde die von 195 Staaten unterzeichnete Vereinbarung als Erfolg gefeiert. Teilen Sie diese Ansicht?

Das hängt von der Betrachtungsweise ab. Es ist sicher ein Erfolg, dass die Staaten sich auf ehrgeizige Klimaziele einigen konnten. Zugleich aber ist es offen, wie verbindlich die Formulierungen sind und ob dieser Klimagipfel bei der Umsetzung tatsächlich hält, was er verspricht.

Führt der multilaterale Weg denn überhaupt noch zum Ziel?

Ich sehe schlicht keine Alternative. In einer globalisierten Welt können und dürfen für deren Probleme nicht nur einzelne Akteure zuständig sein. Wir können gar nicht anders, als in breit abgestützten Verhandlungen um möglichst gute Lösungen zu ringen.

Wie gelingt das am besten?

Wie zum Beispiel können die EU-Staaten sich bald auf einen Verteilschlüssel für Flüchtlinge einigen? Dafür gibt es kein Patentrezept. Solche Verhandlungen sind schwierig und langwierig. Aber selbst wenn auf der Verhandlungsebene der EU keine handfesten Ergebnisse produziert werden, ist das kein Nullresultat. Entscheidungen sind nicht ausschliesslich an zwischenstaatliche Vereinbarungen gebunden, sondern entwickeln sich in der politischen Diskussion, und diese hat offensichtlich viele Menschen sensibilisiert. Die deutsche Willkommenskultur hat mich beeindruckt. Ich war überrascht, wie schnell sich auch die deutschen Universitäten nach Ankunft der ersten Syrienflüchtlinge geöffnet haben. Der Berliner Senat hat das Studienverbot für Flüchtlinge innert 14 Tagen einfach gekippt! Da ist unversehens ein wichtiger Integrationsprozess in Gang gekommen, obwohl auf der EU-Ebene nichts entschieden wurde.

Braucht es dennoch Reformen, damit die EU, die Uno und die grossen Gipfelkonferenzen handlungsfähiger werden?

Die braucht es, und die laufen zum Teil auch. Die grossen internationalen Akteure brauchen gesellschaftliche Legitimation. Es gilt zu verhindern, dass Komplexität verunsichert und die vielen Handlungsebenen weniger als Chance denn als Bedrohung verstanden werden. Europa zum Beispiel wird oft als im Niedergang begriffen dargestellt, überrollt von Flüchtlingen, kurz vor dem ökonomischen Kollaps. Dabei hat gerade Europa nach dem Ende des Kalten Krieges etwas zustande gebracht, was im internationalen Vergleich bemerkenswert ist, nämlich eine friedliche Form der politischen Transformation – mit dem wiedervereinigten Deutschland integriert in der EU. Auch wenn nationalistische Tendenzen und die terroristische Bedrohung heute Anlass zur Sorge sind – Europa ist ein Beispiel dafür, wie friedlich mit divergierenden Ansprüchen umgegangen werden kann.

Madeleine Herren-Oesch ist Professorin für neuere allgemeine Geschichte und Direktorin des Europainstituts der Universität Basel. Sie beschäftigt sich mit European Global Studies und mit der Geschichte internationaler Organisationen.

Anita Vonmont ist Wissenschaftsjournalistin in Basel.