Wo Dorfchefs auch Richter sind

Aus dem Südsudan fliehen viele Menschen. Die Sozialanthropologin Martina Santschi von Swisspeace hingegen fährt für ihre Forschung häufig dahin – trotz aller Gefahren. Sie möchte herausfinden, wie ein neuer Staat die bestehenden sozialen Strukturen nutzen kann.

(Aus "Horizonte" Nr. 108 März 2016)​​​

"Alle fragen immer nach der Sicherheit. Dabei fand ich am Anfang vor allem die Trockenzeit lebensfeindlich – wenn die Bäche ausgetrocknet sind, alle Bäume verdorrte Äste in den Himmel strecken, der Boden von klaffenden Spalten durchzogen ist. Beim ersten Mal habe ich mich gefragt: Kann ich das wirklich über längere Zeit ertragen? Ich bin auf einem Bauernhof in einem Dorf am Thunersee aufgewachsen. Ich liebe grüne, satte Wiesen. Andererseits sind mir schnell Ähnlichkeiten aufgefallen zwischen dem Berner Oberland und dem Südsudan. Bei meiner Familie sind Kühe sehr wichtig. Auch wo ich forsche, hat Viehzucht einen hohen Stellenwert. Die gesellschaftliche Bedeutung von Kühen spielt in meiner wissenschaftlichen Arbeit eine Rolle.

Wobei ich mich nicht mit Milchwirtschaft oder Viehzucht befasse. Ich unter-suche, wie bestehende soziale Strukturen mit dem Aufbau einer neuen Staatlichkeit im Südsudan interagieren, in einem Land, das erst am 9. Juli 2011 seine Unabhängigkeit erlangt hat. Es ist der jüngste Staat Afrikas. Ich habe den Südsudan 2007 im Rahmen meiner Dissertation im Fach Sozialanthropologie an der Universität Bern das erste Mal besucht, als er noch Teil des Sudans war. Seither war ich immer wieder vor Ort. Für meine Dissertation habe ich zweimal je acht Monate im Südsudan geforscht. Für andere Projekte bleibe ich jeweils kürzer. Besonders interessieren mich die traditionellen Autoritäten, lokale Gouvernanz und Schiedsgerichte.

Harmonie ist wichtiger als Strafe

Schiedsgerichte schlichten konkrete Streitfälle – und da kommen die Kühe ins Spiel. Nicht selten wird über Brautpreise gestritten. 'Du schuldest mir noch eine Kuh für meine Tochter', lautet der typische Vorwurf eines Brautvaters. Betroffene reichen dann eine Beschwerde beim Dorfchef ein, der andere Gerichtsmitglieder einberuft. Zeugen werden vernommen, jeder darf mitdiskutieren. Das kann mehrere Stunden dauern. Ich finde das sehr beeindruckend, weil eben nicht der Dorfchef am Ende entscheidet. Es geht vielmehr darum, Harmonie zu etablieren, einen Kompromiss zu finden. Selten wird jemand nach einer Straftat eingesperrt, ausser bei schlimmen Delikten wie etwa Mord. Es ist wissenschaftlich interessant, zu sehen, wie sich in vermeintlich rechtsfreien und ausserstaatlichen Räumen funktionierende Gouvernanzsysteme und Schlichtungsverfahren trotz Jahren des Bürgerkriegs erhalten haben.

Uniformierte stellen ein Risiko dar

Im Südsudan führte ich Interviews, begleitet von einem Übersetzer. Für den Notfall hatte ich ein Satellitentelefon dabei. Sicher ist der Südsudan ein Konfliktgebiet – aber ich bin nicht leichtsinnig. Ich informiere mich sehr gut, bevor ich irgendwohin reise. In Städten übernachte ich in gesicherten Unterkünften. Auf dem Land ist die soziale Kontrolle grösser, da kann ich schon mal mein Zelt aufschlagen oder in einfachen Gästehäusern wohnen. Ich war vielleicht zwei oder drei Mal in kritischen Situationen. Ein Risiko ist die Unberechenbarkeit bewaffneter Uniformierter. Und einmal erkrankte ich trotz Prophylaxe an Malaria.

Wichtig ist das Vertrauen meiner Kontaktpersonen und des Übersetzers. Mareng Chuor übersetzte während meiner ersten Feldforschung. Ich wohnte bei seiner Familie. Mit ihnen war das Eis schnell gebrochen: Eines Morgens bemerkte die Gastfamilie, dass ich eine schwarze und eine blaue Socken trug. Da haben wir laut gelacht, und Mareng sagte: 'Es ist schön zu sehen, dass du auch nur ein Mensch bist.'

Die Bilanz meiner Forschung? Vielleicht die Einsicht, dass es lokale Institutionen gibt, die ganz gut funktionieren und eine wichtige Rolle in der lokalen Gouvernanz spielen. Externe Akteure wie UN-Agenturen oder Nichtregierungsorganisationen fokussieren oft auf Gesetze und die nationale Ebene und berücksichtigen die konkrete Umsetzung und Wirkung weniger. Auf den ersten Blick mag ein neues Landgesetz sinnvoll erscheinen. In der Praxis benachteiligt das jedoch arme Personen, da sie sich die Gebühren für die Registrierung in den Ämtern nicht leisten können. Dadurch verlieren sie ihr Land."

Aufgezeichnet von Christian Weber.