Warnungen verwirren die Konsumenten

Tabak, Glyphosat und Wurst erregen alle Krebs. Das ist zumindest wahrscheinlich. Aber ist das auch schlimm? Eine Analyse der Risikokommunikation der WHO. Von Florian Fisch

(Aus "Horizonte" Nr. 108 März 2016)

Es ist längst ein Ritual: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft in regelmässigen Abständen Chemikalien und Lebensmittel als krebserregend ein – zuletzt traf es die Wurst. Die Schlagzeilen folgen sofort. "Warnung vor der Wurst", schrieb die NZZ. Dann werden Menschen auf der Strasse nach ihrer Meinung befragt. "Ich halte nichts von Studien", sagt eine Passantin in der Sendung Puls des Schweizer Fernsehens. Ein Metzger entgegnet genervt: "Mich würde interessieren, wie viel so eine Studie kostet und was sie bringt."

Die Fleischindustrie hatte erwartungsgemäss keine Freude an der Nachricht. Welchen Effekt solche WHO-Warnungen auf die Volksgesundheit haben, ist offen. Klar ist, dass sie grosse Verwirrung stiften. Die US-amerikanische Monatszeitschrift für Kultur The Atlantic stufte nach der Wurst-Warnung die WHO als stark "verwirrungserregende Organisation" ein, die es nicht schaffe, Risiken verständlich zu kommunizieren. Michael Siegrist, Professor für Konsumverhalten an der ETH, befasst sich mit der Vermittlung von Risiken und ist mit dieser Diagnose einverstanden: "Die WHO hat nicht die Aufgabe, Angst zu machen, sondern sie soll informieren."

Rein akademische Einteilung

Das möchte die WHO eigentlich auch. Ihre spezialisierte Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) hat zum Ziel, "die Ursachen von Krebs zu identifizieren, damit Präventivmassnahmen getroffen werden können und die Krankheitslast und das damit verbundene Leiden reduziert werden können". Über 900 verschiedene verdächtige Faktoren wurden bisher untersucht. Das bekannteste Beispiel sind das Rauchen und das Passivrauchen.

Eine Expertengruppe analysiert dafür sämtliche publizierten Studien zu einem Krebsfaktor und teilt ihn in eine von fünf Kategorien ein. In der ersten Kategorie "krebserregend" befinden sich neben Tabak auch die ultraviolette Strahlung, Asbest und neu verarbeitete Fleischwaren. Als "wahrscheinlich krebserregend" gilt das Herbizid Glyphosat und rotes Fleisch. Abgesehen von vielen "nicht klassifizierbaren" befinden sich die meisten Nennungen in der Kategorie "möglicherweise krebserregend", zum Beispiel Radiowellen und Aloe-Vera-Extrakt. "Wahrscheinlich nicht krebserregend" ist einzig Caprolactam, eine Chemikalie zur Herstellung von Nylon.

Sind Würste und Tabak also gleich gefährlich? Nein, schreibt die WHO in einer Liste mit häufigen Fragen: "Die Klassifikation beschreibt die Stärke der wissenschaftlichen Belege, wonach ein Faktor Krebs verursacht, und beurteilt nicht die Höhe des Risikos." Das Risiko kann noch so klein sein, wenn es eindeutig ist, kommt es in oberste Kategorie. Ebenfalls in den häufigen Fragen wird das Global Burden of Disease Project zitiert, das weltweit 34 000 Krebstote auf den Konsum von zu viel Wurst zurückführt. Das ist verschwindend wenig im Vergleich zu einer Million Tabak-Toten.

Eine Handlungsanweisung fehlt

"Die Bewertung der Glaubwürdigkeit des Effekts ist der allererste und sehr wichtige Schritt einer Risikobeurteilung", erklärt Béatrice Lauby-Secretan, Wissenschaftlerin bei der IARC. Die wichtige Arbeit der Gewichtung dieses Effekts verschiebt die WHO auf später. Dann arbeitet sie mit den nationalen Gesundheitsbehörden zusammen, die den lokalen Kontext kennen. Mit der Kommunikation der Ergebnisse zuzuwarten, bis diese Zusatzinformation vorliegt, wäre gemäss Lauby-Secretan unverantwortlich. Denn Einzelpersonen könnten die Ergebnisse bereits in ihren Alltagsentscheidungen berücksichtigen.

Damit überlässt die WHO die unmittelbare Interpretation den Journalisten. Das hält Heinz Bonfadelli, ehemaliger Professor am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung an der Universität Zürich, für unklug: "Ich finde es gegenüber den Medien problematisch, wenn die WHO den Kontext nicht berücksichtigt und es unterlässt, eine Handlungsanweisung zu geben." Er vermutet, dass die WHO dies nicht tue, um einem Konflikt mit Interessengruppen auszuweichen.

Doch Bonfadelli räumt ein: "Risikokommunikation ist immer ein schwieriges Geschäft." Es gäbe aber Methoden, weniger Verwirrung zu stiften. Zum Beispiel müsste die WHO in ihren Medieninformationen vorausschauen und "überlegen, wie die Information verdreht werden könnte". Falls sie die Risikoanalyse vollständig auslagere, sollten die zuständigen nationalen Behörden zum Beispiel zwei Wochen früher informiert werden, damit diese die Information für die Journalisten vorbereiten können.

Nur absolute Zahlen sind nützlich

Der ETH-Konsumforscher Siegrist ist nicht überzeugt, dass dies helfen würde: "Es sind nicht nur die Konsumenten, auch ein Teil der Behörden kann mit Risiken nicht umgehen." Für ihn liegt das Problem klar in der Kommunikation von relativen Risiken. So schrieb die WHO in ihrer Medienmitteilung, dass sich pro 50 Gramm Wurst pro Tag das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, um 18 Prozent erhöhe. "Diese Information ist komplett nutzlos. Als Konsument brauche ich absolute Zahlen, um das Risiko abschätzen zu können." In der Schweiz erkranken laut Krebsliga jährlich rund 4100 Menschen an Darmkrebs. Eine Reduktion des Fleischkonsums könnte diese Zahl also auf etwas weniger als 3500 senken.

Die Kommunikation relativer Risiken hat laut Siegrist handfeste Nebenwirkungen: "Sie hat einen Einfluss auf die Wahrnehmung und führt zu mehr Sorgen. Selbst absolute Zahlen wirken bedrohlicher, wenn sie von relativen begleitet werden." Wahrscheinlich stumpfe man gegen all die Bedrohungen ab. Dass Organisationen wie die WHO so konsequent an Kommunikation mit relativen Zahlen festhalte, hat für Siegrist auch mit ihrem Bedürfnis nach öffentlicher Aufmerksamkeit zu tun.

Ob die Krebswarnungen wirklich nützen, weiss die WHO nicht. Eine globale Analyse der Verhaltensänderung oder der Krebsraten wäre laut der IARC-Wissenschaftlerin Lauby-Secretan sehr aufwändig. "Wir wissen jedoch, dass nach unserer Presseerklärung der Verkauf von verarbeitetem Fleisch in einigen Ländern spürbar zurückging." Für den Konsumforscher Siegrist ist jedoch klar: "Wenn die WHO ernsthaft mit der Öffentlichkeit kommunizieren will, muss sie sich mit der gängigen Literatur zur Risikokommunikation auseinandersetzen."

Florian Fisch ist Wissenschaftsredaktor des SNF.

G. Gigerenzer et al.: Helping doctors and patients make sense of health statistics. Psychological Science in the Public Interest (2008)
V. Bouvard et al.: Carcinogenicity of consumption of red and processed meat. The Lancet Oncology