Der Justizvollzug ist schlecht auf sterbende Gefangene vorbereitet

In der Schweiz werden immer mehr Straftäter im Freiheitsentzug alt und sterben. Die Vollzugsanstalten müssen sich besser auf diese Situation einstellen und es braucht einheitliche Regeln für ein würdiges Lebensende im Freiheitsentzug.

Dies empfiehlt eine Studie im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms "Lebensende" (NFP 67).

Immer mehr Inhaftierte sind bis zum Lebensende im Gefängnis. Die Zahl der über 50-jährigen Straftäter im Schweizer Freiheitsentzug hat sich seit 2005 verdoppelt auf über 600 Personen. Davon sind rund 30 über 70 Jahre alt. Die Gründe dafür sind: Die demografische Entwicklung der Bevölkerung, die zunehmende Alterskriminalität, die strengeren Gesetze und härteren Strafen wie zum Beispiel die Verwahrungen.

Wie die Haftanstalten auf diese Entwicklung reagieren und was sie für die Inhaftierten und das Personal bedeutet, hat ein Forschungsteam der Universitäten Bern und Freiburg für das Nationale Forschungsprogramm "Lebensende" (NFP 67) unter der Leitung des Sozialanthropologen Ueli Hostettler untersucht. Die Forschenden haben rechtliche Grundlagen analysiert, den Verlauf von 15 Todesfällen untersucht, rund 60 Interviews mit Insassen und Angestellten geführt und während dreier Monate das Innenleben der Justizvollzugsanstalten Lenzburg und Pöschwies erforscht.

Die Angst vor dem unwürdigen Sterben

Das Fazit: "Der Justizvollzug ist laut den Forschenden kaum auf den demographischen Wandel seiner Häftlinge vorbereitet", sagt Sozialanthropologe Ueli Hostettler. Die Anstalten sind auf Resozialisierung ausgerichtet, nicht für alte Verwahrte, und das Personal ist nicht für deren Betreuung ausgebildet. Es steckt in einem Dilemma: Einerseits muss es die Straftäter kontrollieren und überwachen, andererseits aber sollte es sie betreuen und pflegen. Dem Betreuen und Pflegen sind aber Grenzen gesetzt: Aus professionellen Gründen berührt ein Vollzugsmitarbeiter den Inhaftierten jedoch nicht, und das steht im Widerspruch zu den Anforderungen der Alterspflege.

Die Verwahrten befürchten, dass sie ihren Lebensabend nicht würdig verbringen können, weil sie unter einem Zwangsregime stehen. Sie befürchten, dass sie bei Krankheit oder Schmerzen nicht ausreichend behandelt und ihre Wünsche nicht ernst genommen werden. Alten und kranken Gefangenen ein würdiges Sterben zu ermöglichen, ist in den heutigen Haftanstalten schwierig.

Zellen umbauen, Personal ausbilden, einheitliche Regelungen schaffen

Die Forschenden empfehlen auf Basis ihrer Untersuchung mehrere Massnahmen. Die Anstalten sollen Zellen umbauen und für die Langzeitpflege ausrüsten, zum Beispiel mit höhenverstellbaren Betten und Notfallknöpfen in Reichweite auch von Bettlägerigen; das Personal sollte entsprechend weitergebildet werden oder professionelle Betreuer sollten hinzugezogen werden, die chronisch Kranke betreuen und palliative Pflege am Lebensende leisten. Auch sollte für alte Verwahrte die Lebensqualität verbessert werden.

Weiter empfehlen die Forschenden, dass Sterbende mitbestimmen können, wo sie sterben wollen, sei es "draussen" in einem Hospiz oder in der Anstalt. "Die Menschenrechte gelten auch für Gefangene. Auch sie haben das Recht auf einen guten Tod", sagt Hostettler. Dafür müsste das Haftregime in dieser letzten Lebensphase aufgeweicht werden: Die Anstalten könnten etwa die Besuchsordnung lockern oder den Medikamentenkonsum vereinfachen. "Sie könnten zum Beispiel zulassen, dass am Lebensende die Betroffenen schmerzlindernde Medikamente selber dosieren können", erklärt Hostettler. Zum selbstbestimmten Sterben gehört auch die Information über die Möglichkeit, eine Patientenverfügung zu verfassen. Schliesslich sind bei einem Todesfall die Mithäftlinge transparent zu informieren, damit sie die Möglichkeit haben, sich vom Verstorbenen zu verabschieden.

Schliesslich empfehlen die Forschenden, einheitliche Richtlinien für ein würdiges Lebensende im Freiheitsentzug zu schaffen: In der Schweiz existieren hierzu weder Richtlinien noch juristische Normen. "Das Strafgesetzbuch enthält Paragraphen, die alternative Vollzugsregime erlauben würden", sagt Hostettler. Die Forschenden kommen zum Schluss, dass das Bundesgericht diesen Spielraum kaum ausnutzt, sondern dazu tendiert, die vorherrschende Null-Risiko-Haltung zu unterstützen, die Lockerung der Haftbedingungen abzulehnen.

Publikationen

Ueli Hostettler, Irene Marti, Marina Richter: Lebensende im Justizvollzug. Gefangene, Anstalten, Behörden. Stämpfli-Verlag, Bern 2016. 141 S.

Stefan Bérard, Nicolas Queloz: Fin de vie dans les prisons en Suisse: aspects légaux et de politique pénale, in: Jusletter 2, novembre 2015.

(Für Medienvertreter sind beide Publikationen als PDF-Datei beim SNF erhältlich: com@snf.chExternal Link Icon)

Tagung

Die Forschungsgruppe präsentiert ihre Ergebnisse an einer Tagung: Lebensende im Justizvollzug. Wissenschaft und Praxis im Dialog, Universität Bern, 29. April, 9.30 bis 16.45 Uhr.

Kontakt

Dr. Ueli Hostettler
Universität Bern
Institut für Strafrecht und Kriminologie
Schanzeneckstr. 1
CH-3012 Bern
Tel. +41 31 631 55 83 / +41 79 751 46 92
E-Mail
ueli.hostettler@krim.unibe.chExternal Link Icon

Das Nationale Forschungsprogramm "Lebensende" (NFP 67)

Im Auftrag des Bundesrates führt der Schweizerische Nationalfonds das Nationale Forschungsprogramm "Lebensende" (NFP 67) durch. Das NFP 67 will mit wissenschaftlichen Ergebnissen dazu beitragen, Veränderungen und neu entstehende Bedürfnisse rund um das Sterben besser zu verstehen. Die Empfehlungen des NFP 67 werden 2017 in einem Schlussbericht veröffentlicht.