Vortasten in der Risikozone

Peter Guntli mit dem weissen Helm führt Geologiestudenten durch seinen Streckenabschnitt.

Am 1. Juni 2016 wurde nach knapp 20 Jahren Bauzeit der Gotthard-Basistunnel eröffnet. Peter Guntli war am Bau des längsten Eisenbahntunnels der Welt beteiligt. Der Chefgeologe des Bauabschnitts Sedrun blickt zurück.

(Aus "Horizonte" Nr. 109 Juni 2016)​​​

Meine kleine Tochter war vier Jahre alt, da hat sie meine Schwester gefragt, wann der Vater endlich mit dem Tunnel fertig sei. ‹Wenn du Auto fahren kannst›, antwortete diese. So gesehen waren wir schneller als damals erwartet. Meine Tochter ist heute 23 Jahre alt und kann immer noch nicht Auto fahren. Aber der Tunnel, der wird am 1. Juni dieses Jahres eröffnet. Lange Zeit konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass dieser Tag mal kommen wird. Jetzt ist er bald da. Nach über 20 Jahren Mitarbeit an dem Projekt!

Ich bin eher durch Zufall an den Gotthard geraten. Am Anfang hatte ich null Erfahrung, im normalen Geologiestudium lernt man ja nicht, wie man Tunnel oder Schächte baut. Wir Schweizer standen vor dem riesigen schwarzen Loch des Schachtes Sedrun, haben runtergeschaut und gestaunt, was die südafrikanischen Schachtbauer da unten machen. Über die Jahre habe ich selber die Erfahrung für den Tunnelbau erworben, über Lehrgänge, aber vor allem über die Praxis. Ich wurde Chefgeologe des Tunnelabschnitts Sedrun.

Tunnel bauen mit Bauchgefühl

Unsere Hauptaufgabe ist es, das jeweils vor uns liegende Gestein zu beurteilen, um die Ingenieure und Tunnelbauer beim Vortrieb des Stollens zu beraten: Liegt eine unproblematische Zone aus hartem Gneis vor ihnen, wo man ohne grosse Gefahren mit dem Vortrieb vorankommt? Und bereits mit fünf Zentimeter Spritzbeton und wenigen Ankern den Tunnel absichern kann? Oder handelt es sich um eine Risikozone mit weichem, druckhaftem Gestein und grosser Wasserführung, wo man sich mit Bohrungen vortasten und umfangreiche Stütz- oder Abdichtungsmassnahmen treffen muss?

Da hat man meistens nicht viel Zeit, um aufwändige Tests im Labor zu machen. Ein tagelanger Baustopp liegt nicht drin. Es gibt zwar objektive Kriterien, die systematisch und detailliert erfasst werden. Am Schluss bleibt aber nur das Bauchgefühl oder, professioneller gesagt, die Erfahrung und natürlich auch gute Teamarbeit. Glücklicherweise ist in meinem Abschnitt wegen der Geologie nie etwas Ernsthaftes passiert. Wobei das normale Unfallrisiko auf der Baustelle natürlich gross ist: Wenn ein Werkzeug trotz aller Schutzmassnahmen 800 Meter tief durch einen senkrechten Schacht fällt, sollte man nicht in der Falllinie stehen. Vor allem am Anfang hatte ich deshalb sehr viel Respekt vor dem Tunnel, mehr als Respekt. Auch wenn man sich mit der Zeit an die Atmosphäre gewöhnt, bleibt es was Besonderes. Das ist nicht etwas für jeden: allein schon das Gefühl, dass Tausende Meter Gestein über einem sind, die kilometerlange Fahrt in die Dunkelheit, das ständige Kunstlicht, der Lärm der Bohrhämmer.

Im Tunnel muss man gewissenhaft und mit Vorsicht arbeiten, das ist kein Ort zum Rumalbern. Obwohl, einmal haben meine jungen Mitarbeiter einen Aprilscherz gemacht: Sie gaben im offiziellen Erkundungsrapport an, sie hätten Gold gefunden – und würden jetzt den Tunnel über Ostern absperren, um nach Gold zu schürfen. Da hat sich jemand tatsächlich entrüstet, das Gold gehöre doch den Bauherren, nicht den Geologen!

Dauernd einsatzbereit

Aber in der Regel sind wir ernsthaft bei der Sache. Gerade war wieder so ein anstrengender Tag auf der Baustelle, an einer Zone mit vielen wasserführenden Schichten, die wir mit Bohrungen erkunden mussten. Wir haben extra eine Spezialfirma beauftragt, die mit Bohrlochkameras da hineinfährt, gegen einen Wasserstrahl von zehn Liter pro Sekunde. Das war nicht einfach. Wir haben das Problem dann doch noch in den Griff bekommen. Gegen Mitternacht konnte ich nach Hause fahren.

Meine Arbeit macht mir immer noch Spass, der Tunnel ist faszinierend, aber auch anstrengend. Im Grunde stand ich in den vergangenen beiden Jahrzehnten stets in telefonischer Bereitschaft, denn es wird rund um die Uhr gebaut. Am 1. Juni 2016 werde ich sehr glücklich sein und sehr stolz, aber auch sehr erleichtert.

Aufgezeichnet von Christian Weber