Sollten wir an parallele Universen glauben?

Manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler glauben, unser Universum könnte eines von vielen sein. Sollten wir sie ernst nehmen, obwohl es keine experimentellen Beweise gibt? Zwei Experten äussern sich.

(Aus "Horizonte" Nr. 109 Juni 2016)​​​

​Ja, wir sollten offen bleiben, sagt Astrophysiker Martin Rees.

Wie gross ist die physikalische Realität? Wenn wir zum Horizont blicken, sehen wir nur ein endliches Volumen – eine uns umgebende Hülle, die absteckt, wie weit Licht seit dem Urknall gereist ist. Die physikalische Bedeutung dieser Hülle ist jedoch nicht grösser als die des Kreises, der als Horizont wahrgenommen wird, wenn man sich mitten im Ozean befindet. Wir gehen davon aus, dass es noch viele weitere Galaxien jenseits des Horizonts gibt, und obwohl wir diese nicht sehen können, sind wir von ihrer Existenz überzeugt.

Es ist selbst denkbar, dass diese Art von erweiterter Realität noch nicht alles ist. Während Raum und Zeit möglicherweise durch die Auswirkungen "unseres" Urknalls begrenzt sind, deuten andere Theorien darauf hin, dass unser Urknall in Tat und Wahrheit nur einer von vielen ist. Mit anderen Worten ist das, was wir bis anhin "Universum" genannt haben, möglicherweise lediglich eine Insel inmitten einer vielleicht unendlichen Raum-Zeit-Inselgruppe. Damit stellt sich folgende Frage: Weshalb sollten diese Gebiete einen andern erkenntnistheoretischen Status haben als Galaxien jenseits unseres sichtbaren Horizonts?

Manche behaupten, unbeobachtbare Dinge seien nicht wissenschaftlich. Ich finde diese Betrachtungsweise falsch. Obwohl wir nicht ins Innere schwarzer Löcher blicken können, glauben wir, was die Relativität über ihr Innenleben sagt, weil diese Theorie ein beobachtbares Phänomen korrekt beschreibt. Gäbe es ein physikbasiertes Modell, das unser Universum in den frühesten Momenten beschreiben könnte und zudem anderweitig gestützt wäre, müsste man dieses auch ernst nehmen, wenn es auf mehrere Urknalle hindeuten würde.

Ein weiterer Streitpunkt ist die Idee (Teil der Stringtheorie), dass jedes Universum im Multiversum eigenen physikalischen Gesetzen unterliegt. Wäre dies der Fall, würden wir uns nicht über die Tatsache wundern, dass die fundamentalen Konstanten – also die Zahlen, die das Universum bestimmen, in dem wir leben – fein abgestimmt sind zugunsten der Entstehung von Leben. Wir würden ganz selbstverständlich in einem der Universen leben, in dem sich Beobachter gut entwickeln könnten.

Dies würde also bedeuten, dass die fundamentalen Konstanten nichts weiter sind als Zufälle – sekundäre Folgen einer anderen, tiefer greifenden Theorie. Das ist natürlich enttäuschend für ambitionierte Theoretikerinnen und Theoretiker, die sich profundere Erklärungen für die Welt wünschen, in der wir leben. Unsere Wünsche sind aber in Bezug auf die physikalische Realität irrelevant. Wir sollten auf jeden Fall gegenüber der möglichen Existenz mehrerer Universen offen sein.

Nein, die Evidenz ist ungenügend, sagt der theoretische Physiker Carlo Rovelli.

Die Welt könnte weitaus grösser sein als das bisher vermessene Gebiet. In der Vergangenheit wurde immer wieder festgestellt, dass dieses grösser ist als angenommen. Es waren bei jedem dieser Schritte schliesslich Beweise, die überzeugten. Im 17. Jahrhundert zeigte der Wissenschaftler Johannes Kepler auf, dass ein heliozentrisches Modell des Universums planetarische Bewegungen besser vorauszusehen vermag als ein geozentrisches. Und die Astronomin Henrietta Leavitt entwickelte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Technik, die Nebel als entfernte Galaxien enttarnte.

Dem Multiversum fehlt eine solche empirische Basis. Hinzu kommt, dass zahlreiche, sehr unterschiedliche Versionen dieser Idee existieren. Quasi ein ganzer Zoo von Multiversumstypen – jeder davon von einer eigenen theoretischen Motivation getrieben. So gehen beispielsweise manche Kosmologinnen und Kosmologen von mehreren Urknallen aus – dabei kreiert jeder Urknall ein neues Universum. Manche Physikerinnen und Physiker versuchen wiederum die Eigenart der Quantenmechanik zu verstehen, indem sie sich vorstellen, dass sich das Universum stetig über multiple Paralleluniversen ausbreitet.

Eine frühe Version dieser Idee wurde in den 1990er Jahren durch den theoretischen Physiker Lee Smolin angetrieben. Er behauptete, Universen entstünden innerhalb schwarzer Löcher, die wiederum neue "Baby-Universen" erschaffen würden. Dieser Mechanismus implizierte eine Art darwinistische Evolution, in der nur diejenigen Universen selektiert werden, die weitere schwarze Löcher generieren – eine faszinierende Ausdehnung biologischer Konzepte auf den Kosmos. In der Tat versuchte Smolin, im Gegensatz zu vielen Befürworterinnen und Befürwortern des Multiversums, stets die beobachteten Konsequenzen abzuleiten.

Ein gängiges Argument zugunsten des Multiversums ist, dass es eine Erklärung dafür sein könnte, weshalb die Naturkonstanten derart fein auf unsere Existenz abgestimmt zu sein scheinen. Dieses Argument ist jedoch verkehrt. Die fundamentalen Konstanten bestimmen, wie die Natur funktioniert und demzufolge was existiert – und nicht umgekehrt. Wären es andere Konstanten, wäre das Universum eben auch ein anderes. Vielleicht sogar ein noch viel reicheres und komplexeres. Doch darüber wissen wir noch zu wenig.

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich respektiere Kolleginnen und Kollegen, die spekulieren. Vielleicht wird die Idee eines Multiversums eines Tages auch seriös prüfbar sein. Bis dahin sollten Physikerinnen und Physiker aber zurückhaltend sein, wenn sie Spekulationen als Wissen verkaufen. Es ist schnell passiert, dass sich Forschende in ihren Ideen verlieren. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll von faszinierenden Ideen, die sich später als unbrauchbar herausstellten. Zu behaupten, wir wüssten, was ausserhalb des aktuell beobachtbaren Universums liegt, ist, als ob wir sagen würden, wir hätten Beweise für Engelschöre jenseits der Fixsterne.

Sir Martin Rees ist Professor an der Universität Cambridge. Er ist Astronomer Royal und ehemaliger Präsident der Royal Society.

Carlo Rovelli ist Professor an der Universität Aix-Marseille in Frankreich. Er ist Mitbegründer der Theorie für Schleifen-Quantengravitation.