Die Forscherin im Männergefängnis

In der Schweiz werden rund 150 Straftäter verwahrt – viele davon lebenslänglich. Die Ethnologin Irene Marti untersucht, wie es ihnen geht. Dafür nahm die Doktorandin der Universität Neuenburg am Alltag der Gefangenen teil und spielte auch Pingpong mit ihnen.

(Aus "Horizonte" Nr. 110 September 2016)​​​

Das Gefängnis ist ein sehr praktischer Ort, um zu forschen. Die Menschen sind da, sie haben Zeit und Interesse an Gesprächen. Im Gefängnis herrscht eine Art künstliche Normalität: Man ist höflich zueinander, der Tagesablauf ist verordnet, meist läuft es reibungslos. Da ist eine Forscherin eine willkommene Abwechslung. Ich habe jeweils vier Wochen lang die Justizvollzugsanstalten Lenzburg und Pöschwies besucht. Ich will herausfinden, wie sich die Verwahrung auf die Gefangenen auswirkt und wie die Betroffenen mit dieser Lebenssituation umgehen. Ich fälle kein Urteil über diese Massnahme, ich möchte das Erleben der Inhaftierten sichtbar machen.

Am Anfang ging es darum, Vertrauen aufzubauen. Deswegen habe ich die Wochentage mit den Gefangenen verbracht. Ich bin um 7 Uhr gekommen, ging mit zur Arbeit in die Malerei oder die Druckerei. Am Abend spielte ich mit den Gefangenen Pingpong oder Badminton, sie brachten mir Jassen bei. Dass ich eine Frau bin, spielte sicher auch eine Rolle. Ein Gefangener sagte mir, wie gut es ihm tue, wieder einmal mit einer Frau zu reden.

Mörder und Mensch

Meine Weiblichkeit beschäftigte mich während dieser Zeit sehr – als Frau im Männergefängnis. Ich überlegte mir morgens genau, was ich anziehe. Besonders beim Sport achtete ich darauf, dass meine Kleidung nicht zu körperbetont ist. Ich wollte mich aber auch nicht verstellen, sondern mich in meiner Rolle als Forscherin wohlfühlen. Angst hatte ich nie. Vielerorts sind Kameras, es war meist Aufsichtspersonal in der Nähe, und wenn ich mit einem Gefangenen allein in einem Raum war, hatte ich ein Alarmgerät bei mir. Bei manchem Insassen sagten mir die Aufseher, dass ich vorsichtig sein soll.

Ich las im voraus keine Akten. Ich wollte den Insassen unvoreingenommen begegnen. Das änderte sich nach einer Woche, und ich las alles. Gerade die Jüngeren kommen sympathisch und freundlich rüber. Doch hinter ihrer netten Erscheinung steht eine Tat, auch eine brutale Tat. Das konnte ich nur schwer zusammenbringen. Ich merkte bald, ich muss Delikt und Gegenüber trennen. Das ist die Chance für eine echte Begegnung. Ein Mörder ist nicht nur ein Mörder, sondern auch ein Mensch. Ich habe mit ihnen nicht über Schuld geredet. Die Tat ist trotzdem die ganze Zeit präsent. Deswegen ist dieser Mensch im Gefängnis, und ich kann am Abend rausgehen.

Während meines Aufenthalts versuchte ich, die Beziehungen mit den Gefangenen ‹normal› zu gestalten. Ich denke, das ist mir auch gelungen. Sonst hätte ich in den ausführlichen Interviews keine so persönlichen Fragen stellen können. Sie haben mir die Offenheit entgegengebracht, wie sie in diesem Rahmen möglich war. Insgesamt habe ich 18 Gefangene interviewt.

Kostbare Freiheit

Für die erst kurz Inhaftierten ist die Situation noch nicht fassbar, dass es jetzt womöglich so bleiben wird bis zum Lebensende. Manche kämpfen dagegen an. Für sie ist das eine Art Motor, ihr Mittel, am Leben zu bleiben. Andere haben sich aufgegeben und wollen am liebsten nur noch fernsehen und essen. Mir scheint, sie zerbrechen an der Perspektivenlosigkeit. Aber es gibt auch solche, bei denen würde man nicht denken, dass sie seit vielen Jahren eingesperrt sind. Sie sind voller Kraft und Motivation, machen Weiterbildungen oder lernen Fremdsprachen. Sie haben an sich gearbeitet, sich verändert. Sie wollen der Welt draussen zeigen, welcher Mensch sie geworden sind. Einer sagte mir, er mache sich über die Zukunft keine Gedanken, denn er habe keine. Zukunft, das sei draussen, und raus komme er nicht mehr. Es werden tatsächlich nur sehr wenige aus der Verwahrung entlassen.

Am Abend ging ich in mein gemietetes Zimmer. Dort habe ich meine Notizen abgetippt, ich war voller Eindrücke. Ich bin in diese Welt ziemlich abgetaucht. Manche Lebensgeschichten waren happig, das hat mich belastet. Ich habe in dieser Zeit sehr oft von Schlüsseln geträumt. Das ist ein starkes Symbol für das Gefängnis. Wieder aufgetaucht bin ich an den Wochenenden, wenn ich mit Freunden und Familie zusammen war. Ich habe es genossen, meine Tage wieder selbst zu gestalten. Ich bin über eine Wiese gelaufen, und die Sonne schien. Da spürte ich, wie kostbar die Freiheit ist.

Aufgezeichnet von Anne-Careen Stoltze / Bild: Andreas Moser