Die passende Geste

Bionische Prothesen müssen noch präziser und zuverlässiger werden. Um dies zu erreichen, lernen Algorithmen nun von Datenbanken mit natürlichen Bewegungen. Von Geneviève Ruiz

(Aus "Horizonte" Nr. 110 September 2016)​​​

​Die meisten Personen mit Amputationen verwenden Prothesen aus rein kosmetischen Gründen. Es fällt ihnen schwer, bionische Gliedmassen zu akzeptieren, die kompliziert sind und unnatürlich wirkende Bewegungen ausführen. Die meisten auf dem Markt verfügbaren Modelle beherrschen nur wenige einfache Gesten, wie das Öffnen und Schliessen der Hand, die ausserdem oft ruckartig ausgeführt werden. Zudem können die Anwender die Stärke der Bewegungen nicht immer gut kontrollieren, was zu Sicherheitsproblemen führen kann.

Wissenschaftler versuchen die Prothesen so zu verbessern, dass diese natürliche Extremitäten besser imitieren. Dabei greifen sie auf maschinelles Lernen zurück – eine Technik, die insbesondere bei der künstlichen Intelligenz zur Anwendung kommt. Mit den Algorithmen lernt die Prothese aus der Beobachtung natürlicher Gesten, Bewegungen richtig auszuführen.

Hilfe von Physiotherapeuten

Henning Müller, Professor am Institut für Wirtschaftsinformatik der Fachhochschule Wallis in Siders, möchte für die Wissenschaft die grösste Datenbank von Handbewegungen aufbauen. Gegenwärtig umfasst die Datenbank rund fünfzig Gesten, die bei 78 gesunden oder amputierten Teilnehmenden erfasst wurden. "Wir wurden dabei von Physiotherapeuten unterstützt, die im Alltag mit amputierten Personen arbeiten", erklärt Müller. "Mit diesen Daten lassen sich Algorithmen schreiben, die die Geschicklichkeit der Prothesen verbessern, wodurch sie von den Patienten besser akzeptiert werden."

Ein weiterer Aspekt des Projekts besteht darin, die beteiligten neuropsychologischen Mechanismen besser zu verstehen. "Wir wissen nicht genau, wie sich Amputationen auf das Gehirn auswirken", fährt der Forscher fort. "Dieser Aspekt ist jedoch essenziell für intelligente Prothesen, die die Patienten in ihren Körper zu integrieren bereit sind." Der Spezialist will auch verstehen, weshalb bestimmte Personen besser mit dem Einsatz ihrer Prothese zurechtkommen. Seine Arbeiten zeigen, dass die Präzision der Bewegungen steigt, je weiter die Amputation zurückliegt und je intensiver die Phantomschmerzen sind, die durch das Fehlen der Extremität verursacht sind. Beides geht wahrscheinlich mit stärker vernetzten Nerven einher.

Aus Fehlern lernen

Maschinelles Lernen steht auch im Mittelpunkt der Arbeiten von José Millán. Bereits 2010 entwickelte der Forscher der EPFL einen gedankengesteuerten Rollstuhl. Dabei misst eine Haube mit Elektroden die neuronalen Impulse des Gehirns. Vor Kurzem entwickelte Millán neue Schnittstellen zwischen Hirn und Maschine, die selbständig lernen, die Bewegungen eines Roboterarms korrekt zu steuern. "Das Hirn sendet einen spezifischen elektrischen Impuls aus, wenn eine Geste misslingt", erklärt Millán. Seine Vorrichtung dekodiert dieses Fehlersignal und leitet es an einen künstlichen Arm weiter, der so zwischen korrekten und falschen Bewegungen unterscheidet und eine Datenbank mit Abläufen anlegt. "Mit diesem Ansatz lassen sich schneller Ergebnisse erzielen. Sonst müsste der Patient völlig neue motorische Fähigkeiten erwerben. Das braucht sehr viel Zeit, wie man bei Kindern sehen kann."

Andere Forschende verwenden Implantate, um die Maschine direkt mit dem Gehirn oder peripheren Armnerven zu verbinden. Zum Beispiel Silvestro Micera vom Zentrum für Neuroprothesen der EPFL. Seiner Gruppe gelang es 2014, einem amputierten Patienten eine Art Tastsinn zurückzugeben. Die künstliche Hand wandelt sensorische Informationen in elektrische Reize um, diese wiederum werden durch im Arm implantierte Elektroden in Nervenimpulse übersetzt. Micera ist überzeugt, dass künftig sämtliche Prothesen über ein Implantat verbunden werden: "Damit ein Patient seine Prothese annimmt, muss ihm diese natürliche Empfindungen vermitteln. Das lässt sich am besten über Implantate erreichen."

Doch die Grundfrage bleibt: Sind die von Amputationen betroffenen Personen bereit, künstliche Gliedmassen so eng an ihren Körper zu binden?

Geneviève Ruiz aus Nyon ist Chefredaktorin der Zeitschrift Hémisphères.

M. Atzori et al.: Effect of clinical parameters on the control of myoelectric robotic prosthetic hands. Journal of Rehabilitation Research & Development (2016)