"In der Schweiz ist die Geschichte der Dekolonialisierung weniger politisch"

Alexander Keese ist Experte für afrikanische Geschichte. Für seine Analysen zur Dekolonialisierung wird er mit dem Nationalen Latsis-Preis 2016 ausgezeichnet. Von Benjamin Keller

(Aus "Horizonte" Nr. 111 Dezember 2016)​​​

In seinem Büro deuten eine Statuette aus Angola und Fotos des Inselstaats São Tomé und Príncipe – zwei ehemalige portugiesische Kolonien in Afrika – sein Forschungsthema an: Alexander Keese, Träger des Nationalen Latsis-Preises 2016, ist Experte für vergleichende Geschichte über Dekolonialisierung in West- und Zentralafrika, Zwangsarbeit und ethnische Mobilisierung in Konflikten. Der 39-jährige Deutsche beherrscht sechs Sprachen und beantwortete die Fragen von Horizonte auf Französisch.

Wie haben Sie auf die Auszeichnung reagiert?

Ich war völlig überrascht. Ich dachte, dass Historiker äusserst selten Preise erhalten. Weltgeschichte liegt zwar im Zeitgeist, für diese Art von Auszeichnung wird sie aber nicht häufig in Betracht gezogen. Umso mehr, als ich in meinen Projekten tendenziell von einer weit gefassten Problematik ausgehe und erst später konkretere Fragen bespreche. Diesen Ansatz halte ich für den besten. In vielen Ländern besteht aber ein Druck, Antworten zu liefern, noch bevor überhaupt Forschung betrieben wurde … Ich finde es auch bemerkenswert, dass ich geehrt werde, obwohl ich nicht meine gesamte Laufbahn in der Schweiz absolviert habe.

Inwiefern ist Ihre Forschung wegweisend?

Ich arbeite um drei Achsen: Geschichte der Dekolonialisierung, Zwangsarbeit und die Frage der Ethnizität. Bei der Ethnizität zum Beispiel, mit der in Afrika häufig alles erklärt wird, haben meine Arbeiten gezeigt, dass ihre Bedeutung eigentlich relativ ist. Vereinfacht gesagt: Dieser Faktor hat weniger Bedeutung, je stabiler die Situation ist.

Und die beiden anderen Achsen?

Ich habe insbesondere die Integration der afrikanischen Eliten in die Dekolonialisierungsprozesse untersucht. Ich habe festgestellt, dass sie praktisch nie verantwortungsvolle Posten in der Kolonialverwaltung hatten, sondern informell integriert waren, zum Beispiel als Berater. Und dass ihr zunehmender Einfluss zu Forderungen nach Unabhängigkeit führte, die schliesslich die Dekolonialisierung auslösten. Bei der Zwangsarbeit habe ich festgestellt, dass eine Rückkehr zu diesen Praktiken durch die Kolonialstaaten in brutalen Formen zwischen dem Ende des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattfand, die eigentlich als Ära der freien Arbeit gilt.

Die Geschichte der Dekolonialisierung ist auf politischer Ebene gut untersucht. Wesentlich seltener ist hingegen Ihr Ansatz, die gesellschaftliche Situation der Bevölkerung zu betrachten. Weshalb?

Die Archive sind schwer zugänglich. Zeitzeugen sind alt oder bereits verstorben. Das zweite Problem besteht darin, dass das Thema sehr politisiert ist. Häufig werden die Fakten – je nach politischer Konjunktur – anders präsentiert. Die Vergangenheit wird neu interpretiert.

Wie arbeiten Sie?

In der Geschichte gibt es in der Regel zwei Ansätze: Gespräche vor Ort führen oder Archive durchforsten. In meinem laufenden Projekt stütze ich mich vorwiegend auf Dokumente. Es handelt sich um klassische Quellen wie Verwaltungsdokumente. Diese sind aber nicht einfach zu finden, und sie sind häufig in einem dramatisch schlechten Zustand.

Wie fühlen Sie sich in Genf?

Ich schätze es sehr, an einem der wichtigsten Orte für Weltgeschichte zu sein, mit Spezialisten aus allen Weltregionen. Ausserdem ist die Dekolonialisierung in der Schweiz ein weniger politisches Thema als im übrigen Europa. Es ist einfacher, darüber zu sprechen. Die Schweiz ist auch interessant wegen ihrer Offenheit für europäische Sprachen, die in Afrika gesprochen werden.

Benjamin Keller ist freier Journalist und lebt zurzeit in Kairo.

Video-Interview und Bilder seiner Forschung: www.snf.ch/latsisExternal Link Icon

Nationaler Latsis-Preis 2016

Der seit 1983 vom SNF im Auftrag der in Genf ansässigen internationalen Stiftung Latsis verliehene Nationale Latsis-Preis ist mit 100 000 Franken dotiert und zeichnet ausserordentliche Arbeiten von Forschenden aus, die jünger als 40 Jahre und in der Schweiz tätig sind. Der Preisträger 2016, Alexander Keese, ist 1977 in Hannover geboren. Er schrieb seine Dissertation an der Universität Freiburg i.Br. und habilitierte an der Universität Bern. Er forschte an den Universitäten Porto und Humboldt. Im Rahmen einer SNF-Förderprofessur forscht er seit 2015 am Departement für allgemeine Geschichte der Universität Genf. Er ist verheiratet.