Die Roboter-Künstlerin

EPFL-Professorin Jamie Paik findet Kunst am schönsten, die funktionell ist. Die Ingenieurin entwickelt elegante, "weiche" Roboter und Hilfsmittel für den Alltag. Von Celia Luterbacher

(Aus "Horizonte" Nr. 111 Dezember 2016)​​​

Jamie Paik interessiert sich für Kunst, seit sie denken kann. Inspiriert durch ihre Mutter, eine Malerin, entdeckte sie als Kind ihre Liebe zur Bildhauerei und zum Formen von Materialien. Deshalb wurde sie Ingenieurin. "Ich wollte Kunst studieren, doch meine Eltern meinten, das sei ein Hobby, kein Beruf", erzählt sie heute lachend. "Die am nächsten verwandte akzeptable Disziplin war Maschinenbau, weil man hier Neues erschafft."

2012 gründete Paik das Reconfigurable Robotics Lab an der EPFL. Ihr Fachgebiet sind "weiche" Roboter: Geräte, die Form und Bewegungen rasch an Umgebung und Situationen anpassen. Ein Vorzeigeprojekt ihres Labors ist der Origami-Roboter: ein Blatt in der Grösse von Post-it-Zetteln aus 3D-gedruckten Plättchen, die über bewegliche Gelenke und eingebettete Kupferschaltkreise verbunden sind. Das Blatt kann verschiedene Formen annehmen und kommt für Anwendungen in Frage, die von Kommunikation bis zu Such- und Rettungsaktionen reichen. Ihre Arbeit, erklärt die Roboter-Künstlerin, ist denn auch stärker von ihrer Liebe zu Skulpturen inspiriert als zu Origami-Papierkranichen.

"Früher dachte ich, Papier sei Kinderkram ", sagt Jamie Paik. "Dieses Material ist einfach und ungefährlich zu bearbeiten. Mich faszinierten aber schon immer die physikalischen Veränderungen eines Materials. Wie Ton, der hart wird, wenn man ihn brennt. Man kann ihn glasieren und die chemische Verwandlung beobachten. " Dieses Interesse widerspiegeln ihre Keramikarbeiten: Sie verwandelt einen Klumpen Lehm in farbenfrohe Objekte mit schlichten Metallwürfeln, filigranen Verschnörkelungen und Miniaturbergen auf glasierten Hügeln.

Eine Welt der funktionellen Kunst

Ihr Büro im kürzlich eingeweihten Gebäude für Maschinenbau der EPFL erinnert mit der Fassade aus gekippten, verschiebbaren Metallstoren selber etwas an einen Roboter. Paik meint, ihre Studienwahl sei auch vom Wunsch motiviert gewesen, etwas zu erschaffen, das im Alltag der Menschen unerlässlich wird. Ihre weichen Roboter gehören zu einer "zweiten Generation" von Robotern: sie sind klein und unauffällig, passen sich aber schnell den Bedürfnissen des Nutzers an.

"Wir wollen Roboter, die im Alltag in unserer Nähe sind, denen wir aber nicht ständig sagen müssen, was sie zu tun haben ", erklärt Paik. Ihr Traum ist es, einen am Körper tragbaren Roboter gegen Rückenschmerzen zu entwickeln – sie kennt das Problem aus eigener Erfahrung. Und sie ist gar nicht so weit vom Ziel entfernt. Wearable Robotics ist ein Fokus des Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) "Robotik", an dem Paik mitarbeitet. "Bei Rückenschmerzen wird oft zu Gewichtsreduktion und Übungen geraten. Ich will die nächstbeste Lösung schaffen. Diese soll am Körper tragbar sein und die Betroffenen daran erinnern, Übungen zu machen, und helfen, den Rumpf zu stabilisieren."

Bei einem Rundgang durch das "schmutzige" Labor, in dem mehrere Doktorierende konzentriert neue Strukturen zusammensetzen – im "sauberen" Labor werden heiklere Materialien getestet –, demonstriert Paik den Prototyp eines Gürtels mit flexiblen Silikonsegmenten, die je nach Körperbewegungen weicher oder starrer werden.

Gesundes Gleichgewicht

Mit der Leitung von Forschungsprojekten, Führungsaufgaben im Labor, Lehrtätigkeit und Arbeiten für ihre Tenure-Track-Professur durchlebt die 36-Jährige eine arbeitsintensive Zeit. Doch sie ist entschlossen, trotz langer Arbeitstage ein gesundes Gleichgewicht zu finden – dabei habe ihr der Umzug nach Lausanne geholfen, eine eher kleine Stadt im Vergleich zu ihren früheren Wohnorten Vancouver, Tokio, Seoul, Paris und Boston.

"Ich habe immer in Städten gelebt, Take-away gegessen und kaum einmal für mich gekocht. Nun versuche ich, den gesünderen Schweizer Lebensstil zu übernehmen! Ich geniesse die Natur und gute lokale Lebensmittel. Hier in Lausanne mag ich den Markt", sagt sie. In ihrem gedrängten Terminkalender stehen auch Französischlektionen, obwohl sie neben Englisch bereits Japanisch und Koreanisch spricht.

Paik empfindet das im internationalen Vergleich relativ kleine Netzwerk von Forschungsinstituten in der Schweiz als Erleichterung für ihre Arbeit, weil sich die Forschung besser abstimmen lässt. "Mit den grossen Namen und Ivy-League-Universitäten in den USA ist eine Koordination schwierig. Hier ist es einfach, den Kontakt zu Forschungskollegen zu pflegen, weil es viel weniger und kleinere Universitäten gibt. Ich reise regelmässig an die ETH Zürich und bin auch nahe bei anderen europäischen Forschungsinstituten."

Sinn für Kreativität ist gefragt

Die Arbeit an ihren Robotern nimmt einen Grossteil ihrer Zeit in Anspruch. Mit Herzblut kümmert sie sich aber auch um die Menschen dahinter, sei es bei der Anstellung und Betreuung oder beim Unterrichten. Einen Sinn für Kreativität hält sie für die wichtigste Eigenschaft von Studierenden, die an einer Laufbahn in der Robotik interessiert sind: "Wenn ich Studierende anstelle, suche ich nach Leuten, die immer irgendwelche Dinge bauen und reparieren und die einfallsreich sind."

Als Frau in einer Männerdomäne hofft Paik, dass das Gebiet der Soft Robotics – weitgehend Neuland, dessen Erforschung kreative und multidisziplinäre Lösungen erfordert – auch Studentinnen begeistert. "Es ist wichtig, Schülerinnen früh dafür zu sensibilisieren, dass es cool ist, in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) gut zu sein", ist sie überzeugt. "Im letzten Jahrzehnt gab es zahlreiche Bemühungen, Mädchen bereits ab sechs Jahren in MINT zu fördern. Langsam zeigt dies Wirkung: Die Zahl der Frauen in diesen Studienfächern nimmt zu, was mich sehr freut."

Celia Luterbacher ist Journalistin bei swissinfo.ch.

Erfinderin mit internationaler Karriere

Die in Kanada geborene 36-jährige Jamie Paik ist Tenure-Track-Assistenzprofessorin für Maschinenbau und Leiterin des Reconfigurable Robotics Lab an der EPFL. Sie lebte als Kind in Korea und Japan und studierte an der University of British Columbia in Vancouver. Danach verbrachte sie ein Praktikumsjahr bei Mitsubishi in Tokio, wurde anschliessend von Samsung rekrutiert, um in Südkorea an humanoiden Robotern zu arbeiten. Das Unternehmen finanzierte ihr Doktorat an der Seoul National University. Dann absolvierte sie zwei Postdocs an der Université Pierre et Marie Curie in Paris und an der Harvard University in Boston. Paik ist Miterfinderin von mehreren Robotik-Patenten, zum Beispiel für ein motorisiertes Instrument zur laparoskopischen Chirurgie.