Bestrafen ist nützlicher als gedacht

Mathematische Modelle der Evolution erklären, wie sich Lebewesen gegen Verräter wappnen. Von Stefan Stöcklin

(Aus "Horizonte" Nr. 112 März 2017)​​​

Die Theorie der Evolution stützt egoistisches Verhalten. Das spiegelt sich im Konzept des "selfish gene" sogar bis auf der Ebene der DNA. Da ist es erstaunlich, wie häufig Organismen kooperieren. Ohne gegenseitige Hilfe geht nichts: Vogelpaare investieren zum Beispiel in die gemeinsame Aufzucht. Insekten bilden regelrechte Staaten mit geteilten Aufgaben. Die Entstehung kooperativen Verhaltens wird von Evolutionsbiologen und Genetikern bis zu Spieltheoretikern intensiv erforscht.

Interessante und überraschende Einblicke liefert nun der Theoretiker Matthias Wubs, Doktorand an der Universität Neuenburg. Zusammen mit Laurent Lehmann von der Universität Lausanne und Redouan Bshary von der Universität Neuenburg hat er Bedingungen untersucht, die kooperatives Verhalten in Populationen begünstigen. Grundlage für ihre Forschung ist das berühmte Gefangenendilemma, bei dem zwei inhaftierte Verdächtige entweder zusammenarbeiten und stillhalten oder sich gegenseitig verpfeifen. Kooperieren beide, fahren sie am besten. Packt einer aus, hat er einen grösseren Vorteil, der andere Verdächtige aber den entsprechend gewichtigeren Nachteil. Verpfeifen beide einander, ist die gemeinsame Strafe grösser als im Fall der Kooperation.

Drei mögliche Strategien

Auf der Basis dieses Dilemmas hat Wubs nun untersucht, welche von drei Strategien zur Förderung von Kooperation sich in einer virtuellen Population durchsetzt: Ein Individuum kann den Verräter entweder bestrafen, verlassen oder es ihm mit gleicher Münze zurückzahlen – wie du mir, so ich dir. In verschiedenen Runden der Interaktion können verschiedene Parameter des mathematischen Modells variiert werden, wie die Populationsgrösse und die Zahl der Interaktionen.

Obwohl das Modell eine Vereinfachung realer Verhältnisse darstellt, kann es biologische Gesetzmässigkeiten realistisch abbilden. Bei grossen Gruppen lohnt es sich, illoyale Mitglieder einfach zu meiden. "Die Strategie des Partnerwechsels ist umso dominanter, je grösser die Gruppe und die Zahl der Interaktionen ist", sagt Wubs. Dieses Resultat ist intuitiv nachvollziehbar: Ein Individuum, das seinen nicht kooperierenden Partner verlässt, hat in einer grossen Gruppe gute Chancen, ein vorteilhafteres Gegenüber zu treffen.

Die Alternative der Bestrafung erfordert dagegen einen lebenslangen Aufwand, um den Partner bei der Stange zu halten. Diese Strategie ändert sich mit der Populationsgrösse und der Zahl der Interaktionen.

Die Gruppengrösse ist entscheidend

"In kleinen Gruppen ist es besser, unkooperative Mitglieder zu bestrafen", sagt Wubs. Das kann bei Vögeln zum Beispiel bedeuten, dass dem abtrünnigen Partner eine Feder ausgerissen wird. Das bestrafende Individuum erzwingt so die Zusammenarbeit, was in kleineren Gruppen von Vorteil ist, denn die Zahl möglicher kooperierender Individuen ist klein.

Überraschenderweise hat sich die Bestrafung in den Computersimulationen auch in mittelgrossen Populationen mit rund 50 interagierenden Individuen als Mittel der Wahl herausgestellt. Ein Ergebnis, dass er nicht erwartet habe, sagt Wubs. Der theoretische Biologe und Modellierer Simon Powers, Dozent an der Edinburgh Napier University, streicht dieses Ergebnis hervor: "Es gibt unter Biologen eine lange Debatte darüber, ob die natürliche Selektion die Strategie der Bestrafung nicht kooperierender Individuen favorisieren kann." Die von Wubs und seinen Kollegen entwickelten Computermodelle zeigten nun, dass sie andere Formen der Partnerkontrolle sogar übertreffen würden, so Powers.

Mit eleganter Mathematik lassen sich also neue Einsichten in die Evolution gewinnen, die nicht offensichtlich sind. Für den theoretischen Biologen liegt der Reiz seines Fachgebiets in diesem Erkenntnisgewinn. "Wir können Hypothesen entwickeln und testen", so Wubs. Die Empiriker können dann nach real existierenden Populationen suchen, die es gemäss dem Modell geben müsste.

Stefan Stöcklin ist Redaktor an der Abteilung Kommunikation der Universität Zürich.

M. Wubs et al.: Coevolution between positive reciprocity, punishment, and partner switching in repeated interactions. Proceedings of the Royal Society of London B (2016)