Dem Lockruf der Maschine nicht erliegen

Künstliche Intelligenz kann beim Pokern gewinnen, einen Sportbericht verfassen, ein künstlerisches Werk schaffen. Auch in die Forschung stürmt sie mit Riesenschritten: Sie hilft Linguistinnen bei der Analyse eines Textkorpus, Physikern auf der Suche nach neuen Materialien und Biochemikerinnen bei der schnellen Durchführung Hunderter von Experimenten. Erste Prototypen wagen sich noch weiter vor: Ausgehend von Beobachtungen formulieren sie völlig neue Hypothesen.

(Aus "Horizonte" Nr. 113 Juni 2017)​​​

​Diese neuen Ansätze zwingen uns, die Art zu überdenken, wie wir Forschung betreiben: Es wird schwierig werden, auf Werkzeuge zu verzichten, mit denen wir schnell zu noch mehr Ergebnissen kommen. Umgekehrt ist es gefährlich, unser Denken demjenigen der Maschine anzupassen: Wir würden den Wettstreit zwangsläufig verlieren.

Die Fortschritte werfen sehr konkrete erkenntnistheoretische Fragen auf. Gewisse durch Computer erzeugte mathematische Beweise sind viel zu lang, um je von einem Menschen gelesen – und damit verifiziert und verstanden – zu werden. Ein Algorithmus folgt Optimierungsschritten, die im Prinzip relativ einfach, in der Praxis jedoch extrem komplex sind. Am Ende ist es praktisch unmöglich, die "Überlegungen" nachzuvollziehen. Diese fehlende Transparenz erfordert ein blindes Vertrauen in die Maschine. Aber was ist mit Ergebnissen, die wir nicht verstehen? Unweigerlich stellt sich die Frage: Definiert sich Wissenschaft als die Gesamtheit des von ihr erzeugten Wissens oder eher als Methode?

Für den Physiker Richard Feynmann ist Wissenschaft eine Haltung: "It's a kind of scientific integrity, […] – a kind of leaning over backwards. For example, if you're doing an experiment, you should report everything that you think might make it invalid." Es wäre naiv, diese letzte Aufgabe des Zweifelns einem Programm zu überlassen. Das Aufstreben forschender Roboter ist unausweichlich. Das sollte uns aber dazu ermutigen, nicht in algorithmischer Weise zu denken, sondern diskursiv und kontrafaktisch. Wir müssen Raum für unkonventionelles Denken bewahren. Dies – und nicht ein unermüdlich pipettierender Roboter – ist das eigentliche Wesen der Wissenschaft.

Daniel Saraga, Chefredaktor