Die Physik von allem

Der Astrophysiker Kevin Schawinski will herausfinden, wie sich seit dem Urknall Galaxien mit bewohnbaren Planeten entwickelt haben. Von Christian Weber

(Aus "Horizonte" Nr. 113 Juni 2017)​​​

​Was macht man, wenn man sich eine Million Galaxien anschauen soll, aber eigentlich noch andere Dinge in seinem Leben vorhat? Der Astrophysiker Kevin Schawinski, damals noch ein 26-jähriger Doktorand an der University of Oxford, hatte eine ebenso schlichte wie geniale Idee: Er organisierte sich ein paar hunderttausend Helfer, die ihm diese Arbeit abnahmen, kostenlos und in ihrer Freizeit.

So geht die Geschichte, mit der Schawinski zum ersten Mal mediales Aufsehen erregte. Der heute 36-jährige, an der ETH Zürich lehrende Forscher ist einer der Gründer von Galaxy Zoo, einem der ersten Citizen-Science-Projekte, bei denen Amateure den Profis helfen. Schawinski hatte damals den Auftrag, Galaxien zu klassifizieren: Balken- oder Spiralgalaxie? Sternenhaufen? Oder eine ganz neue Form? Nach einer Woche hatte er erst 50 000 Galaxien geschafft und keine Lust mehr. Bei einem Bier mit einem Kollegen kam er dann auf die Idee, die Web-Seite Galaxyzoo.org aufzubauen, wo jeder per Mausklick Galaxien kategorisieren kann. Bereits nach einem Tag schafften die Freiwilligen 70 000 Klassifikationen pro Stunde; heute beteiligen sich über 350 000 Bürgerwissenschaftler an Galaxy Zoo.

"Das Wichtigste in der Wissenschaft ist Kreativität", sagt Schawinski. Damit meint er nicht nur die Intuition des Forschers, sondern ausdrücklich die Offenheit für alle neuen Ansätze und Methoden, den Blick in andere Disziplinen. Solche geistige Beweglichkeit ist wahrscheinlich ein Grund für die steile Karriere des geborenen Zürchers.

Erfolgsrezept für das 21. Jahrhundert

So sitzt er nun in seinem kleinen, verglasten Büro auf dem Campus Hönggerberg der ETH. Ein Spielzeug-Roboter – NP 5357 – schaut ihm aus dem Regal zu, auf dem Besuchertisch ein Kunstband und ein Buch des amerikanischen Autors Sam Harris über den freien Willen. "Spannendes Buch!", sagt Schawinski und versichert: "Es ist ganz, ganz wichtig, sich breit zu interessieren: Philosophie, Neuro- und Computerwissenschaft, Politik, Wirtschaft! Ich sag meinen Studenten immer, sie müssen sich auch mit solchen Sachen beschäftigen, wenn sie im 21. Jahrhundert Erfolg haben wollen."

In diesem Moment liegt Emotion in der Stimme des eher trockenen Physikers, der auf die Frage nach der Erhabenheit des gestirnten Himmels antwortet: "Die sinnliche Bindung an den Sternenhimmel ist bei mir eher nicht so gross." Und den auch die Dimensionen des Kosmos nicht übermässig beeindrucken: "Daran gewöhnt man sich." Der New York Times sagte er mal, dass er den Mond und das Sternbild Orion finden würde, viel mehr wohl nicht.

Seine Leidenschaft hat eine andere Quelle. "Mich faszinieren die Naturgesetze hinter all dem", ruft er aus. "Ich will die Gesetze der Physik nutzen, um zu erklären, wie es von einer winzigen Quantenfluktuation nach dem Urknall zu einer Galaxie mit bewohnbaren Planeten gekommen ist." Dabei interessiert den Astrophysiker insbesondere die Rolle der schwarzen Löcher, die – wie man heute weiss – im Zentrum jeder Galaxie stehen und um den Faktor 10 000 bis mehrere Milliarden mal schwerer sind als die Sonne. Sie entwickeln dabei solche Gravitationskräfte, dass sie kein bisschen Licht mehr herauslassen. Als schwarzes Loch wäre die Masse der Erde in einer Murmel von weniger als einem Zentimeter Durchmesser konzentriert.

Schawinski vermutet, dass die schwarzen Löcher eine entscheidende Rolle bei der Evolution des Universums gespielt haben. Welche genau, weiss noch niemand. Trotzdem schwärmt der Forscher vom derzeit "Goldenen Zeitalter der Astrophysik", in dem wir mit jedem neuen Teleskop "völlig neue Phänomene entdecken". Das Alter des Universums sei mittlerweile exakt auf 13,81 Milliarden Jahre bestimmt, und die Existenz der dunklen Materie habe sich bestätigt. Selbst bei dem Problem mit den schwarzen Löchern entwickelt gerade das Team von Schawinski neue Ansätze.

Teleskope oder Computer?

Grundlegend sei die Einsicht, dass im Kosmos extrem unterschiedliche Zeitskalen relevant sind. So sei für eine ganze Galaxie 100 Millionen Jahre ein normaler Zeitschritt, in dem eine bedeutsame Veränderung stattfinde. In einem Quasar hingegen tue sich bereits in nur 100 000 Jahren etwas Relevantes. "Die Frage ist nun, wie wir das alles miteinander verbinden und in unsere Modelle einbringen", sagt Schawinski. Und natürlich, wie man Messdaten über solch lange Zeiträume gewinnt.

"Wir entwickeln Modelle und schauen dann: wo funktioniert's, wo klemmt's?", erläutert Schawinski. Und man kann die Echos vergangener Ereignisse beobachten, schliesslich braucht das Licht vom zentralen Quasar der Milchstrasse einige zehntausend Jahre, bis es die Erde erreicht. Schawinski freut sich auf den für 2018 geplanten Start des James Webb Space Telescope (JWST), mit dem man noch weiter in die Vergangenheit wird schauen können. "Es wird eine wissenschaftliche Revolution auslösen."

Schawinski sieht schon die Probleme solcher Projekte. "Die Kosten für das JWST nähern sich bereits neun Milliarden Dollar, das muss man natürlich rechtfertigen." Kevin Schawinski tut sein Bestes, um die Öffentlichkeit von der Bedeutung und Faszination seiner Disziplin zu überzeugen – in Auftritten bei Science-Festivals, Youtube- Videos und mit mittlerweile 22 500 Nachrichten bei Twitter.

Dennoch weiss er, dass auch die Astrophysik nicht allein auf immer grössere und teurere Teleskope setzen darf. Er selber setzt auf die Zusammenarbeit mit Computerwissenschaftlern. In Zukunft sollen die neuronalen Netze der künstlichen Intelligenz (KI) Daten analysieren und Galaxien kategorisieren (siehe auch "Augmented Science", S. 13). Und die begeisterten Hobby- Astronomen vom Galaxy Zoo? "Die brauchen wir trotzdem", versichert der ETH-Professor. Sie sollen in Zukunft Training Maps für die Deep Minds erstellen: also nur kleine Gruppen von Galaxien katalogisieren, an denen die KI-Bilderkennung dann lernen kann, um schliesslich automatisch weiterzuarbeiten. "So werden wir in Zukunft Billionen Galaxien erfassen können."

Christian Weber ist Wissenschaftsjournalist und arbeitet für die Süddeutsche Zeitung.

Angelsächsische Blitzkarriere

Der 36-jährige Astrophysiker Kevin Schawinski kam in Zürich als Sohn von Radiopionier und Medienunternehmer Roger Schawinski zur Welt. Kevin Schawinski studierte Physik und Mathematik an der Cornell University in Ithaca im Bundesstaat New York (USA) und promovierte in Astrophysik am Christ Church College der Universität Oxford (England). Nach einem Forschungsaufenthalt an der Universität Yale kam er 2012 mit einer SNF-Förderungsprofessur an die ETH Zürich.