Den Buchstabensalat im Kopf entwirren

Elektrische Stimulation könnte Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche helfen, die Schnittstelle zwischen Sprache und Schrift im Gehirn zu stärken. Von Yvonne Vahlensieck

(Aus "Horizonte" Nr. 113 Juni 2017)

​Lesen und Schreiben sind eine relativ neue Errungenschaft der Menschheit und sind folglich nicht im Gehirn programmiert. Deshalb verbringen wir in den ersten Schuljahren viel Zeit damit, zu lernen, gesprochene Sprache in geschriebene Buchstaben zu verwandeln und umgekehrt. Doch bei manchen Kindern will es einfach nicht richtig klappen: Sie vertauschen Buchstaben, machen unzählige Rechtschreibfehler und lesen nur stockend. Unter einer solchen Lese-Rechtschreib-Schwäche, auch Legasthenie oder Dyslexie genannt, leiden etwa 5 bis 15 Prozent der Bevölkerung. Neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung stellen den Betroffenen nun Abhilfe in Aussicht.

Mühe mit Silbenklatschen

Was bei einer Dyslexie falsch läuft, ist schon lange Gegenstand der Forschung. Als sicher gilt: Es liegt nicht an mangelnder Intelligenz. Stattdessen haben Neurowissenschaftler ein Defizit an der Schnittstelle zwischen Sprach- und Schriftverarbeitung im Gehirn festgestellt. "Das Problem liegt dabei nicht primär am Hören oder Sehen sondern auf höheren Stufen, wo sich auditorische und visuelle Sprachverarbeitung spezialisieren und zusammentreffen", erklärt Daniel Brandeis, Professor für Neurophysiologie an der Universität Zürich. "An dieser Schnittstelle wird die gesprochene Sprache in ihre einzelnen Elemente zerlegt und mit den visuellen Mustern der Schriftzeichen verknüpft, die durch spezialisierte Hirngebiete erkannt werden."

Das entspricht der Erfahrung von Heilpädagogen: Kindern mit Dyslexie fällt es schwer, die Sprache in ihre kleinsten Einheiten – die Phoneme – zu stückeln. Sie finden es zum Beispiel schwierig, Silben zu klatschen und ähnliche Laute wie t und d voneinander zu unterscheiden. Deswegen konzentriert sich eine Therapie oft auf diese Defizite. "Rein visuelle Trainings ohne Sprache haben keinen positiven Effekt auf das Lesen und Schreiben", weiss Anke Sodogé. "Dagegen sind Übungen zur Unterscheidung und Verarbeitung von Lauten nachweislich wirksam." Die Professorin an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich warnt aber auch vor zu hohen Erwartungen an eine Therapie, denn trotz aller Mühen sei der erzielte Fortschritt oft nur gering.

Ein neuer neurologischer Therapieansatz könnte den Erfolg des heilpädagogischen Trainings verbessern: Er beruht auf der Erkenntnis, dass bei einer Dyslexie bestimmte Hirnwellen aus dem Takt geraten sind. Mit Hilfe einer elektrischen Hirnstimulation möchte die promovierte Schweizer Psychologin Katharina Rufener an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg diese Schwingungen wieder in den richtigen Takt bringen. "Die Idee ist, die hirnphysiologische Ausgangslage zu normalisieren, damit die Therapie besser greift."

Hirnschwingungen korrigieren

Im Gehirn erzeugen synchron feuernde Neuronen mehrere Arten von Schwingungen, die je nach Frequenz verschiedene Funktionen erfüllen. Bei einer Dyslexie sind die Gamma-Oszillationen gestört. Sie schwingen mit einer Frequenz von 25 bis 40 Hertz und sind an der Verarbeitung der gehörten Sprache beteiligt: "Das Gehirn hat etwa 25 Millisekunden Zeit, die einzelnen Phoneme zu erkennen. Diese Abtastrate entspricht ungefähr der Periode einer Gamma-Oszillation", sagt Rufener. "Bei einer Dyslexie ist die Schwingung zu langsam oder zu schnell, und dadurch ist die Abtastrate des akustischen Sprachsignals gestört. Deshalb können Phoneme nicht voneinander unterschieden werden."

Um die gestörten Schwingungen wieder in den richtigen Takt zu bringen, führt Rufener bei ihren Versuchspersonen eine Hirnstimulation mit zwei aussen am Kopf angebrachten Elektroden durch: Die gewünschte Frequenz wird mit einem schwachen Wechselstrom ins Gehirn geleitet. Es ist bekannt, dass Nervenzellen in den stimulierten Regionen die von aussen übertragenen Schwingungen aufgreifen.
Rufener stimulierte ihre Probanden mit Schwingungen und liess sie gleichzeitig Aufgaben zur Unterscheidung von Phonemen lösen. Kinder und Jugendliche mit einer Dyslexie schnitten dabei besser ab als ohne Stimulation. Dies gelang mit Frequenzen im Gammabereich. In einer zweiten Versuchsreihe will Rufener nun die Wirkung von anderen Schwingungen testen, die bei der Mehrheit der Dyslexie-Patienten ebenfalls beeinträchtigt sind und mit Denkleistungen in Verbindung gebracht werden.

Noch ist allerdings nicht klar, ob diese Methode zu einer längerfristigen Verbesserung führen kann, denn nach einer einmaligen Hirnstimulation fällt das Gehirn fast sofort wieder in den fehlerhaften Takt zurück. Es gibt aber Hinweise darauf, dass der Effekt länger anhält, wenn über einen grösseren Zeitraum hinweg mehrmals
stimuliert wird.

Anne-Lise Giraud, Professorin für Neurowissenschaften an der Universität Genf, glaubt jedoch, dass der Zeitpunkt für eine therapeutische Anwendung noch zu früh ist: "Eigentlich wissen wir noch gar nicht genau, was bei einer Hirnstimulation passiert." In Zusammenarbeit mit dem Wyss Center für Bio- und Neuroengineering führt sie ähnliche Versuche durch – vorläufig allerdings nur an Erwachsenen ohne Dyslexie. "Wenn wir stimulieren, sehen wir eine Verbesserung der Fähigkeiten zur Erkennung von Lauten. Aber wir bekommen auch viele widersprüchliche Resultate."

Ansatz mit Modellen prüfen

Deswegen will Giraud zunächst noch mehr Grundlagenforschung betreiben. Nicht definitiv geklärt ist beispielsweise, ob Gamma-Oszillationen dauernd vorhanden sind: "Wir glauben, dass nur eine schwache Schwingung vom Hirn selbst vorgegeben wird, die sich erst durch das Hören verstärkt." Ihre Untersuchungen zeigen zudem, dass die Gamma-Oszillationen an andere Schwingungen im Gehirn gekoppelt sind, die möglicherweise eine Anpassung an verschiedene Sprechgeschwindigkeiten steuern. Zur Überprüfung ihrer Hypothesen hat Giraud eine Computersimulation entwickelt: "Das Modell bildet ein Netzwerk von Neuronen ab, das Gamma-Oszillationen produziert und mit dem wir alle diese Vorgänge durchspielen können."

Auch wenn die Zusammenhänge noch nicht im Detail erforscht sind, findet Daniel Brandeis den Einsatz der elektrischen Hirnstimulation vielversprechend: "Ich kann mir gut vorstellen, dass dieses Verfahren die Effektivität bestehender Therapien entscheidend erhöhen und dadurch nachhaltigere und schnellere Veränderungen erreichen könnte." Eine vollständige Heilung solle man trotzdem nicht erwarten: "Für die schwer Betroffenen bleibt Lesen trotz Behandlungserfolgen meist anstrengend. Sie werden nur selten mit der gleichen Leichtigkeit lesen können wie Menschen ohne Dyslexie."

Yvonne Vahlensieck ist freie Wissenschaftsjournalistin in der Nähe von Basel.

K. S. Rufener et al.: Transcranial Alternating Current Stimulation (tACS) differentially modulates speech perception in young and older adults. Brain Stimulation (2016)