"Die Wissenschaftsforschung stellt schmerzhafte Fragen"

"Die akademische Welt muss sich selber wissenschaftlich beobachten", sagt Bruno Strasser. Der Historiker erklärt, weshalb die Wissenschaftsforschung Mühe hat, sich in der Schweiz zu etablieren. Interview von Daniel Saraga

(Aus "Horizonte" Nr. 114 September 2017)​​​

Von Citizen Science bis Open Science die akademische Welt will sich reformieren. Macht sie dies wissenschaftlich?

Diese Frage ist ziemlich schmerzhaft. Die Wissenschaft fordert von der Politik einen evidenzbasierten Ansatz, hält sich aber selber nicht daran. Ein Problem ist, dass in der Wissenschaftsforschung oft der Jargon der Sozialwissenschaften verwendet wird, der in der Biologie und der Physik schlecht verstanden wird. Dadurch fehlt diesen Forschenden der Zugang zu entsprechenden Erkenntnissen. Das ist schade.

Ein kulturelles Problem?

Ja, aber nicht nur. Bis in die 1960er führten vorwiegend Forschende der Naturwissenschaften die Metadiskussion über die Wissenschaft. Erst später folgte die externe Sicht der Soziologie und der Geschichte, was die Wissenschaftsforschung professioneller machte. Es wurden schmerzhafte Fragen zur Funktionsweise der Forschung gestellt. Das führte zu Zerwürfnissen zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. Die Wogen haben sich inzwischen geglättet; der Diskurs der Wissenschaftsforschung wird besser verstanden und akzeptiert. Aber der Dialog funktioniert in Europa deutlich schlechter als in den USA, wo die Universitäten die Liberal Arts pflegen und die Studierenden gleichzeitig Fächer in harten und weichen Wissenschaften belegen. Das erleichtert den Austausch.

Und in der Schweiz?

Es gibt erst wenige Initiativen für Wissenschaftsforschung, ausser am Collegium Helveticum der ETH Zürich, am Laboratoire d'étude des sciences et des techniques der Universität Lausanne oder auch am Collège des humanités der EPFL. Basel hat seinen Lehrstuhl 2014 geschlossen, und ausgezeichnete Forschende haben das Land verlassen. Den meisten Studierenden und Forschenden der Naturwissenschaften fehlt die Kultur der Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Einrichtungen bleiben in ihren Disziplinen verhaftet, und die Wissenschaftsforschung fällt zwischen Stuhl und Bank.

Welcher dringenden Frage sollte sich die Wissenschaftsforschung widmen?

Der Kritik der Expertenmeinung: Kann die Öffentlichkeit den akademischen Experten bei politischen Entscheidungen oder Abstimmungen vertrauen?

Das erinnert an populistische Polemik gegen die "Eliten". Könnte die Wissenschaftsforschung instrumentalisiert werden?

Absolut. Der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour machte sich 2004 Vorwürfe, weil er durch seine kritischen Überlegungen Argumente einbrachte, die dann in der Politik aufgegriffen wurden, um den Klimawandel zu bestreiten. Es gab Kreationisten, die die Wissenschaftsforschung vor Gericht zitierten. Aber die Wissenschaftsforschung darf sich nicht aus Furcht vor einem Missbrauch ihrer Forschung selbst zensurieren!

Die Populisten entwickeln einen extremen Relativismus und verweisen auf den "gesunden Menschenverstand des Volkes", der wertvoller sei als die Expertenmeinung. Diese Haltung – die genauso Angst macht wie das gegenteilige Szenario einer allmächtigen Technokratie – entspricht nicht der Wissenschaftsforschung. Diese fordert eine kritische Interpretation der wissenschaftlichen Fakten und insbesondere eine Abstufung der Zuverlässigkeit. Zwar ist dieser Punkt bei den Forschenden gut bekannt, er wird jedoch oft von einem Storytelling verdeckt, das rasante Fortschritte, historische Entdeckungen und Heureka-Momente in den Vordergrund stellt.

Wie kann zwischen Bevölkerung und Wissenschaft wieder ein gewisses Vertrauen hergestellt werden?

Am Ende des 20. Jahrhunderts befürchteten die Staaten, die Kritik untergrabe die Unterstützung der Steuerzahlenden. Deshalb schufen sie partizipative Instrumente wie die Evaluation von technologischen Entscheiden. Studien zu diesen Entscheiden zeichnen ein gemischtes Bild: Die Konsultation erfolgt spät, wenn der Entscheid bereits gefallen ist, und die Bevölkerung fühlt sich übergangen.

Man versucht deshalb nun, die Bevölkerung nicht nur in Entscheidungen, sondern auch in die Produktion von wissenschaftlichem Know-how einzubeziehen. Die Studien meiner Gruppe über Citizen Science zeigen eine grosse Vielfalt. In gewissen Fällen begnügen sich Privatpersonen damit, Bilder von Galaxien oder Neuronen einzuteilen. Dabei erledigen sie einfache Aufgaben ohne selbstständiges Denken. So kann ein banalisiertes Bild der Wissenschaft entstehen. Darin kommt eine gewisse Demagogie zum Ausdruck: Man bezieht die Bevölkerung ein, damit sie schliesslich die eigene Forschung gutheisst.

Das andere Extrem ist die Bewegung der Do-it-yourself-Science, wie im Hackuarium bei Lausanne, wo Privatpersonen ihr eigenes Projekt entwickeln. Häufig sind es junge Menschen mit wissenschaftlicher Ausbildung. Diese partizipativen Erfahrungen bieten aber einen neuen Rahmen für andere Arten von Forschung.

Der Bürgerforscher

Bruno Strasser ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Genf und ausserordentlicher Professor in Yale. Seine Arbeiten zur Geschichte der Biologie und der Medizin haben ihn nach Paris, Berlin, Princeton, Barcelona und Manchester geführt. Derzeit befasst er sich mit der Citizen Science.