Französische Literatur mit Bestiarien entdecken

Richard Trachsler

Ein Team der Universität Zürich, das auf französische Literatur aus dem Mittelalter spezialisiert ist, hat Gymnasialklassen eingeladen, die Ursprünge von Einhörnern, Drachen und Meerjungfrauen zu entdecken.

Häufig hört man, dass es schwierig sei, Gymnasiastinnen und Gymniasiasten für das Fach Französisch zu motivieren. Ihr Interesse an mittelalterlicher französischer Literatur zu wecken, scheint also ein hoffnungsloses Unterfangen. Doch Richard Trachsler, Professor für französische Literatur des Mittelalters an der Universität Zürich, ist dies gelungen: Er hat Schülerinnen und Schüler eingeladen, mittelalterliche Bestiarien anhand von Manuskriptsammlungen mit Geschichten über Tiere und Fabelwesen zu entdecken. "Einhörner oder Drachen sind sehr präsent in vielen populären Erzählungen der Gegenwart, so zum Beispiel in Harry Potter oder Game of Thrones", erklärt Richard Trachsler. "Wir haben uns gesagt, dass wir diese Gelegenheit nutzen sollten, um das Interesse der Jugendlichen zu wecken. Das hat funktioniert."

Richard Trachsler und sein Team haben zuerst in allen Deutschschweizer Kantonen Lehrkräften der Gymnasialstufe Weiterbildungen zum Thema mittelalterliche Bestiarien gegeben. Zudem haben sie als Unterstützung Lehrmaterialien für Workshops, in denen die Jugendlichen ihre eigenen Fabelwesen erschaffen können, erarbeitet. Danach wurden einzelne Klassen sowie ganze Klassenstufen zu Thementagen eingeladen, an denen zuerst eine Gesamtpräsentation stattfand, gefolgt von Kursen über einzelne Tiere.

"Viele Jugendliche interessierten sich nicht nur für die ursprüngliche Symbolik der Fantasiewesen ihrer Lieblingsserien, sondern auch für andere emblematische Tiere wie Wolf oder Löwe", fährt Richard Trachsler fort, und weist darauf hin, dass Bestiarien aus dem französischsprachigen Raum in der europäischen Volksliteratur des Mittelalters besonders populär waren. "In diesen Manuskripten werden Tiere entsprechend den Werten des Christentums erfasst: Der Löwe symbolisiert Christus, der Fuchs den Teufel. Diese Beschreibungen verweisen auf die Denkweise und Kosmologie, wie sie vor 800 Jahren vorherrschten. Sie erlauben uns aber auch, unsere heutige Wahrnehmung der Tierwelt zu hinterfragen, die immer noch davon geprägt ist."

Innerhalb von zwei Jahren konnte Richard Trachsler, dank einer Finanzierung durch das Programm Agora des SNF, über 300 Gymnasiasten und Gymnasiastinnen einladen, und er hat ein grosses Bedürfnis seitens der Lehrkräfte festgestellt. "Dieses Projekt ist eine einzigartige Gelegenheit, die Ergebnisse unserer Forschung an die Gesellschaft weiterzugeben. Wir können so auch deren Nutzen zeigen: Ohne unsere Arbeit würde das gesamte Wissen zur mittelalterliche Literatur und Tiersymbolik verloren gehen." Für die Zukunft wünscht sich der Forscher, dass er seine Leidenschaft vermehrt mit einem breiten Publikum teilen kann: in Klassen, bei öffentlichen Vorträgen oder sogar im Zoo Zürich.