"Ich bin frustriert"

Martin Vetterli weibelt seit Jahren für Open Science. "Befehlen kann ich es nicht", sagt der Präsident des Forschungsrates des Schweizerischen Nationalfonds. Als Forscher an der EPFL legt er sämtliche seiner Rohdaten offen. Von Atlant Bieri

(Aus "Horizonte" Nr. 110 September 2016)​​​

Was bedeutet "Open Science" für Sie als Forscher?

Wir haben bei uns an der Fakultät für Computer- und Kommunikationswissenschaften an der EPFL eine Tradition, dass alle veröffentlichten Papers online frei verfügbar sind. Dazu liefern wir auch alle Daten und alle Quellcodes. Auf diese Weise können alle unsere Resultate von anderen Forschergruppen reproduziert werden.

Schon heute versinken Forschende in Papers. Wie können Forschende den Überblick behalten, wenn nun alles offengelegt wird?

Mit Open Science wird genau das Gegenteil der Fall sein. Einen Artikel auf dieser Basis zu publizieren bedeutet, dass alle Daten sauber dokumentiert sind. Jeder Arbeitsschritt, der zu einem Resultat führte, ist beschrieben, damit er von anderen nachvollzogen werden kann. Das führt dazu, dass generell weniger Papers publiziert werden und dass gleichzeitig deren Qualität steigt. Forschung wird damit auch übersichtlicher.

Wie gehen Sie dabei konkret vor?

Wir publizieren immer noch in den traditionellen Journals. Doch bereits während wir das Paper einreichen, stellen wir alle Daten auf unseren Server. Sobald der Artikel akzeptiert wird, stellen wir auch dieses online frei zur Verfügung.

Sollte ein Forscher nicht das Recht haben, seine Laborrezepte für sich zu behalten?

In meinem Feld sicher nicht. Aber auch für andere Wissenschaftszweige als die Computerwissenschaften ist das fragwürdig. Vor 350 Jahren haben wir die Wende von der Alchemie zur Chemie vollzogen. Die Alchemisten behaupteten einfach, nach einer geheimen Methode Gold produziert zu haben. Es gab keine Möglichkeit, die Behauptung systematisch zu überprüfen. Man konnte es glauben oder auch nicht glauben. Doch mit der Chemie änderte sich das. Wir begannen unsere Methoden zu publizieren. Das war die Geburtsstunde der modernen Wissenschaften. Wenn wir es heute anders machen, bewegen wir uns wieder zurück zur Alchemie.

Nur 40 Prozent der Publikationen, die über Beiträge des Schweizerischen Nationalfonds entstanden sind, sind frei zugänglich. Sind Sie als Forschungsratspräsident zufrieden damit?

Nein. Ich bin frustriert. Wir sind viel zu langsam. Heute zahlt der Schweizer Steuerzahler drei Mal. Das erste Mal für die Forschung, das zweite Mal für das Abonnement der Fachzeitschrift und das dritte Mal für die Open-Access-Gebühr. Dabei schöpft der Verlag zwei Mal einen Gewinn ab. Das ist sehr beschämend. Das können wir nicht tolerieren.

Was unternehmen Sie dagegen?

Der SNF arbeitet zusammen mit Swissuniversities an einer Strategie. Wir wollen erreichen, dass alle Papers Open Access erhältlich sind, und zwar ohne dass wir nochmals eine Gebühr dafür entrichten müssen. Wir hoffen, dass wir eine Vereinbarung mit den Verlagen treffen können, damit Forscher in der Schweiz automatisch Open Access erhalten.

Wie wollen Sie das erreichen?

Wenn der Forschungsplatz Schweiz geschlossen auftritt, dann könnten wir zu den Verlagen gehen und sagen: Entweder macht ihr mit uns jetzt einen Deal, oder die Schweizer Forschergemeinde wird euch boykottieren. Das ist natürlich schwierig. Aber die Niederlande haben das geschafft. Und sie waren erfolgreich damit.

Ist die Schweiz bereit für diesen Schritt?

Die ganze Sache ist etwas kompliziert. Verschiedene Akteure auf dem Forschungsplatz Schweiz haben unterschiedliche Interessen. Wir tun uns bei der Koordination dieser Interessen noch ein wenig schwer.

Könnte der SNF die Forschenden nicht einfach dazu zwingen, ihre Daten nur noch bei Open Access Journals zu publizieren?

Dies ist nicht so einfach, denn das wäre unter Umständen schlecht für ihre Karriere. Ein Forscher muss möglichst in einer Zeitschrift publizieren, die am besten zu seinen Resultaten passt. Unser Ziel ist es auch, die Karrieren der Forschenden zu fördern, und nicht, sie zu behindern.

Warum gründet die EPFL nicht ihr eigenes Fachmagazin?

Ein eigenes Fachmagazin ist eine sehr gute Idee. Aber das ist nicht etwas, das wir von oben herab befehlen können. Das muss von der Forschergemeinde selbst kommen. Wenn eine Gemeinschaft sich dafür entscheidet, den traditionellen Weg zu verlassen, dann wird es passieren. Aber ich bin nicht der, der das entscheidet. Für einen solchen Prozess braucht es einen kulturellen Wandel bei den Forschenden.

Sind Forscher anderswo schon diesen Weg gegangen?

Ja. Der berühmte Mathematiker Timothy Gowers von der Universität Cambridge hat zusammen mit anderen Forschenden das Journal "Discrete Analysis" gegründet. Das ist ein virtuelles Journal. Das Editorial Board kann sich ganz auf das Peer-Review konzentrieren, weil die Verwaltung der eingehenden Papers von einer externen Firma übernommen wird. Die Kosten belaufen sich auf rund zehn Franken pro Manuskript. Es kostet also hundert bis tausend Mal weniger als die Publikation in einem traditionellen Journal.

Ein Artikel in Nature zeigte 2012, dass 47 von 53 wichtigen Krebsstudien nicht reproduzierbar waren. Wie ist so etwas möglich?

Fairerweise muss man sagen, dass in manchen Gebieten die Forschung schwieriger ist als in anderen. Bei der Medizin beispielsweise hat man nur wenige Daten, weil man hier mit Menschen arbeitet. Dort gibt es mit der Statistik häufig Probleme und damit auch mit der Reproduzierbarkeit.

Trotzdem, die Reproduzierbarkeitskrise betrifft auch andere Gebiete wie die Biologie. Dort kann man seine Datenmengen frei wählen.

Ich habe von bekannten Professoren das Argument gehört: "Die andere Gruppe konnte das nicht reproduzieren, weil die nicht so gut sind wie wir." Es gibt Leute, die ein goldenes Händchen haben. Das heisst, sie können mit Organismen so gut umgehen, dass ihnen Experimente gelingen, die andere nicht nachmachen können. Trotzdem denke ich, dass das eine Schwäche ist, weil das Ziel der Wissenschaft die lückenlose Reproduzierbarkeit ist.

Mogeln die Leute nicht einfach?

Dies kann vorkommen, ist aber sicher nicht die Norm. Hier müssen wir auch an die Konkurrenz unter Forschenden denken. Die ist heute etwas zu stark. Der dadurch entstehende Druck führt dazu, dass die Forscher sich genötigt fühlen, auch inadäquate Arbeiten zu publizieren.

Wettbewerb ist also schlecht für die Forschung?

Nein, so plakativ würde ich das nicht sagen. In der Wissenschaft ging es schon immer darum, der Erste bei einer Entdeckung zu sein. So bringen wir die Forschung voran, indem wir schlauer und besser sind als die Anderen. Es gehört zur Natur der Forschung, sich im gegenseitigen Wettstreit zu messen.

Aber was ist dann das Problem?

Heute ist es vor allem für junge Leute schwierig geworden, echte Forscher zu sein. Vor fünfzig Jahren hatte man noch die Musse, anders über die Welt zu denken und neue Ideen zu generieren. Heute ist Forschung zu einem Business geworden. Die Öffentlichkeit, die Politik und die Privatwirtschaft denken, dass man bei der Forschung an einem Ende Geld reinwerfen kann, damit am anderen Ende wenig später verwendbare Resultate herauskommen. Aber das ist natürlich nicht so. Forschung braucht Zeit und Raum für kreative Gedanken.

Aber an der EPFL haben es die Forscher doch gut, oder nicht?

Es geht nicht nur um die Schweiz. Forschung passiert global. Und hier gibt es einige beunruhigende Phänomene. In gewissen asiatischen Ländern etwa hängt der Lohn eines Forschers davon ab, in welchen Fachmagazinen er publiziert. Das ist fragwürdig, denn so wird unredliches Verhalten direkt gefördert.

Und das hat auch Auswirkungen auf den Forschungsplatz Schweiz?

Ja. Junge Forschende spüren den Druck zu publizieren. Sie machen aus dem Material für ein Paper gleich drei. Das sieht auf der eigenen Publikationsliste besser aus. Das merken wir auch bei den Anfragen für Reviews. Die sind in den letzten Jahren explodiert. Das ganze System wird komplett überschwemmt. Die Qualität bleibt da natürlich auf der Strecke.

Wie kann Open Science das gegenwärtige System verbessern?

Wenn wir auf Open Science umstellen, dann produzieren wir weniger Papers von besserer Qualität. Die lassen sich erst noch schneller im Reviewprozess überprüfen, weil alles dokumentiert ist.

Sie werden Präsident der EPFL. Welche konkreten Massnahmen planen Sie, um Open Science zu fördern?

Ich will eine Kultur fördern, in der Forschungsfelder, die mit Open Science schon weit sind, andere Felder so beeinflussen, dass diese auch mitmachen. Dazu stellen wir ein Online-Tool zur Verfügung. Mit dem können Forschende ihre Daten einfach hochladen und für andere bereitstellen. Dritte können diese dann überprüfen. Das Tool soll aber auch die Kollaboration zwischen verschiedenen Gebieten fördern. In den Umweltwissenschaften beispielsweise ist man den Umgang mit grossen Datenmengen nicht unbedingt gewohnt. Hier könnten die Mathematiker oder Computerwissenschaftler helfen.

Wie überzeugen Sie die Jungforscher von Open Science?

Ich sage ihnen: Das Wichtigste für deine Karriere ist, dass deine Arbeit eine grosse Wirkung hat. Wenn du deine Daten online stellst, wird deine Arbeit sichtbarer und die Leute vertrauen dir auch. Und das führt zu einer grösseren Wirkung. Befehlen kann ich es ihnen nicht. Die Erkenntnis muss von ihnen selbst kommen.

Atlant Bieri ist freier Wissenschaftsjournalist.

Von Präsident zu Präsident

Martin Vetterli ist einer der Vorreiter von Open Science. Er ist Professor an der Fakultät für Computer- und Kommunikationswissenschaften an der EPFL, noch bis Ende 2016 Präsident des Nationalen Forschungsrates des SNF und ab Anfang 2017 neu EPFL-Präsident.

Für eine bessere Wissenschaft

Am Kongress "We Scientists Shape Science" vom 26. bis 27. Januar 2017 legen Forschende zusammen mit Entscheidungsträgern erste Schritte hin zu einer kreativen, soliden und engagierten Wissenschaft fest. Der Kongress wird von der Akademie der Naturwissenschaften und dem Schweizer Wissenschafts- und Innovationsrat organisiert.

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