Augenblicke im Fokus

"Eyetracking" hilft bei der Optimierung von Navigationshilfen und Arbeitsplätzen ebenso wie in der Psychologie. Doch es ist gar nicht so einfach, Geräte zu entwickeln, die den Nutzern weniger auffallen. Von Sven Titz

(Aus "Horizonte" Nr. 111 Dezember 2016)​​​

Fussgänger suchen heute ihren Weg oft mit dem Smartphone. Diese Anwendung wollen der Informatiker Peter Kiefer und der Geoinformatiker Martin Raubal weiter vereinfachen. Die Forscher am GeoGazeLab der ETH Zürich versuchen die Smartphone-Karten so zu verfeinern, dass sich Fussgänger optimal in einer neuen Umgebung zurechtfinden. Sie entwickeln dazu spezielle Systeme, bei denen Eyetracking-Module am Kopf befestigt werden. Diese Module bestehen aus Kameras, die teils auf die Augen ausgerichtet sind, teils das Blickfeld der Fussgänger erfassen. Per Eyetracking verfolgen Kiefer und Raubal, an welchen Wegmarken sich die Passanten orientieren. Die Erkenntnis des Experiments: "Manche Elemente auf den Karten ignorieren sie komplett", sagt Raubal. Um die Fussgänger nicht zu verwirren, sollte man diese Elemente – Bahngleise zum Beispiel – von Karten besser weglassen.

Das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt: Eyetracking, die automatische Verfolgung der Blickrichtung, hat eine bemerkenswerte Karriere gemacht. Das ist kein Wunder, denn der Blick eines Menschen verrät recht unvermittelt den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit und sein Befinden. Viele Bereiche von Wissenschaft und Wirtschaft machen heute von der Technik Gebrauch, zum Beispiel die Kognitionsforschung, die Soziologie oder die Automobilindustrie.

Ein weiteres, besonders ehrgeiziges Projekt von Kiefer und Raubal dreht sich um den Luftverkehr. In Kooperation mit der Fluggesellschaft Swiss wollen die Forscher per Eyetracking das reguläre Training von Piloten in einem Flugsimulator verfolgen.

Gestresste Piloten vor der Kamera

Um die Piloten nicht zu behindern, werden Eyetracking-Kameras nicht auf deren Kopf installiert, sondern im Cockpit. An den Blickbewegungen wollen Raubal und Kiefer erkennen, welche Art Situationen die Piloten unter Stress setzen. Die Fluggesellschaft erhofft sich davon Erkenntnisse, die für die Weiterentwicklung des Flugtrainings verwendet werden sollen.

Mit Hilfe von Eyetracking kann man aber auch Büroarbeitsplätze optimieren. Daran forscht zurzeit die Bauingenieurin Mandana Sarey Khanie am Laboratoire Interdisciplinaire de Performance Intégrée au Projet (LIPID) der EPFL. Wer täglich acht Stunden vor dem Bildschirm sitzt, klagt oft über gereizte Augen, Müdigkeit oder Kopfschmerzen. Das kann an Helligkeitskontrasten in der Umgebung liegen. In einem angenehm beleuchteten Büro lässt sich meist produktiver arbeiten. Sarey Khanie untersucht, wie der Einfluss von Licht beim Entwurf von Arbeitsplätzen intelligent berücksichtigt werden kann. Dabei geht es um Büros, die mit Tageslicht illuminiert werden.

Sarey Khanie verwendet für ihr Projekt ein Eyetracking-System, das aus drei auf dem Kopf montierten Kameras besteht. Zwei schauen auf die Augen; eine zeichnet die Orientierung des Kopfes auf. Zusammen dienen sie dazu, die Blickrichtung zu ermitteln. Per Eyetracking erkennt die Forscherin, wenn eine Person in systematischer Weise auf das Licht reagiert. "In einem Experiment haben wir beobachtet, dass die Menschen gern aus dem Fenster schauen und das nur vermeiden, wenn das einfallende Sonnenlicht starke Helligkeitskontraste hervorruft", erzählt sie.

Ob sich Menschen am Arbeitsplatz vom Licht geblendet fühlten, lasse sich zwar auch durch eine Befragung ermitteln, aber das sei zu ungenau, erklärt Sarey Khanie. Gemeinsam mit der LIPID-Direktorin Marilyne Andersen will sie Software-Tools entwickeln, mit denen Architekten per Simulation drei Anforderungen der Bauplanung vereinbaren können: die Nutzung von Tageslicht und den Sichtkontakt zur Aussenwelt maximieren, die Blendung durch gleissendes Licht vermeiden und den Energieverbrauch niedrig halten.

"Looking at nothing"

Auch Grundlagenforscher nutzen gern Eyetracking. Besonders Psychologen schätzen die Technik, denn sie ermöglicht eine unverfälschte Beobachtung des menschlichen Verhaltens. "Die eigenen Augenbewegungen kann man kaum kontrollieren", erläutert die Psychologin Agnes Scholz von der Universität Zürich.

Scholz setzt das Eyetracking ein, um fundamentale Denkprozesse zu erkunden. Wenn Menschen Entscheidungen treffen, können sie sich an abstrakten Regeln orientieren oder auf Beispiele aus der jüngsten Erinnerung stützen. In einem Experiment wollte Scholz herausfinden, welche Unterschiede sich dabei beobachten lassen. Dazu sollten Probanden einige Personen beurteilen, deren Profile ihnen am Computer vorgestellt wurden. Um zu prüfen, ob die jüngste Erinnerung eine Rolle spielte, verfolgten die Probanden noch vor der Beurteilung auf dem Monitor eine Präsentation von Beispielfällen.

Die Beobachtung per Eyetracking deckte einen fundamentalen Unterschied im Blickverhalten auf: Die Bewertung lief nämlich anders ab, wenn die Probanden sich dabei an die Beispiele erinnerten. Während sie ihre Entscheidung trafen, blickten diese Probanden auf bestimmte Stellen auf dem Monitor: Es waren diejenigen leeren Stellen, wo kurz zuvor die Beispielfälle zu sehen waren. Psychologen ist das Phänomen als "Looking at nothing"-Verhalten vertraut. Die anderen Probanden, also die, die sich bei der Bewertung an abstrakten Regeln orientierten, unterliessen das Ins-Nichts-Starren. In Zukunft will Scholz noch genauer herausfinden, wann das spezielle Blickverhalten auftritt und welche Rolle es bei Entscheidungen spielt.

Eyetracking für den Konferenztisch

Psychologin Scholz verwendete für das Eyetracking eine Spezialkamera, die auf die Augen der Probanden gerichtet ist und per Infrarotlicht auch geometrische Eigenschaften der Pupille vermisst. Solche Systeme sind in den letzten Jahren immer weiter verfeinert worden und funktionieren sehr präzise. Allerdings mangelt es ihnen oft an Flexibilität, vor allem für Anwendungen, bei denen sich Menschen lebhaft bewegen, ohne eine feste Blickrichtung einzuhalten.

Kenneth Funes Mora und Jean-Marc Odobez am Idiap Research Institute in Martigny tüfteln an Systemen, die relativ kostengünstige Kameras ohne hohe Auflösung nutzen. Sie registrieren nicht nur Farben, sondern auch Entfernungen. Dank ausgefeilter Algorithmen ermittelt ein Computer aus den Kamerabildern ständig die Blickrichtung. Dazu werden die veränderlichen Winkel der Kopfbewegungen und Augenbewegungen erfasst und anschliessend in die Blickänderungen umgerechnet. Mit diesen Kamerasystemen, die unauffällig auf einem Konferenztisch platziert werden, können die Forscher Verhandlungstechniken studieren.

Die beiden Informatiker haben ihre neue Eyetracking-Methode längst patentieren lassen. Funes Mora arbeitet zurzeit nur noch zur Hälfte als Forscher am Institut, daneben kümmert er sich um das Spin-off-Unternehmen Eyeware.

Es gebe vielfältige Anwendungsmöglichkeiten für ein Eyetracking-System, meinen die Forscher. Die neu entwickelte Kamera tauge vor allem dazu, die visuelle Aufmerksamkeit von Menschen zu erforschen und die Interaktion zwischen Menschen und Computern zu unterstützen. Sie könnte zum Beispiel von einem Roboter verwendet werden, der in einer Shoppingmall Kunden berät. Auch eine Nutzung im medizinischen Bereich sei gut denkbar – zum Beispiel zur Diagnose von Beschwerden wie Autismus, die sich an Augenbewegungen erkennen lassen.

Das dürfte allerdings kaum die letzte Anwendungsidee für ihr Eyetracking-System bleiben. "Die Augen erzählen einfach eine Menge", sagt Funes Mora.

Sven Titz ist freier Wissenschaftsjournalist.