Die Heilkunde sträubt sich gegen den Tod

Palliative Care lindert die Leiden schwerstkranker Menschen, doch viele Mediziner vernachlässigen noch immer den Ansatz. Von Susanne Wenger

(Aus "Horizonte" Nr. 109 Juni 2016)​​​

​Herr Lazaroff, Mitte 60, litt an metastasierendem Prostatakrebs. Obwohl keine Aussicht auf Heilung bestand, wurde er erneut operiert. Zwei Wochen später starb der Patient auf der Intensivstation. "Die Illusion, der er aufsass, narrte auch uns Ärzte", schreibt der US-amerikanische Chirurg Atul Gawande in seinem Buch "Sterblich sein" selbstkritisch: "Wir schafften es nie, über die tiefere Dimension seiner Lage und die Grenzen unserer Möglichkeiten zu sprechen, geschweige denn darüber, was für ihn am Ende seines Lebens vielleicht am meisten von Bedeutung wäre."

Linderung steht im Vordergrund

Hier setzt das Konzept der Palliative Care an. Anstatt Lebensverlängerung um jeden Preis rückt ein anderes Therapieziel in den Vordergrund: Den Todkranken soll es in der verbleibenden Zeit möglichst gut gehen.

In der Schweiz verabschiedeten Bund und Kantone die nationale Strategie Palliative Care erst 2009. Auch das akademische Fach der Sterbebegleitung ist hierzulande noch jung. Der erste Lehrstuhl für Palliativmedizin entstand 2011 an der Universität Lausanne. Inzwischen wurden vier weitere Professuren geschaffen: eine zusätzliche in Lausanne und je eine in Genf, Bern und Zürich, letztere an der theologischen Fakultät.

Einiges ist im Aufbruch, und doch scheint die Begleitung von Todkranken bisher ein etwas stigmatisiertes Stiefkind der Medizin geblieben zu sein – ein gesonderter Bereich, der erst dann zum Einsatz kommt, wenn eine Patientin oder ein Patient "austherapiert" ist. "Unser Gebiet ist der Gegner der kurativen Medizin: das Sterben", erklärt Steffen Eychmüller, Professor für Palliative Care an der Universität Bern. Der hochspezialisierten, auf Heilung ausgerichteten Medizin gilt der Tod oft als Misserfolg, als Niederlage.

Auch dank der beeindruckenden Fortschritte der kurativen Medizin hat sich unsere Lebenserwartung fast verdoppelt. Das System schaukle sich aber gelegentlich zu "Allmachtsphantasien" hoch, sagt Gian Domenico Borasio, Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne.

Die Palliativmedizin hingegen akzeptiere, dass die Medizin nicht jede Krankheit heilen könne. Sie stelle unbequeme Fragen: Ist wirklich alles sinnvoll, was machbar ist? "Übertherapien am Lebensende sind ein riesiges Problem im Gesundheitswesen", sagt Borasio. Nicht nur ethisch, auch finanziell. Dafür seien nicht die Ärztinnen und Ärzte allein verantwortlich, sondern die ganze Gesellschaft. Er hält fest, mit Übertherapien werde viel Geld verdient. Das Schweizer Gesundheitswesen sei "betriebswirtschaftlich organisiert", sagt auch Eychmüller. Ein Sterbender, der auf teure medizinische Prozeduren verzichtet, wird rasch zum negativen Kostenfaktor.

Spirituelle Begleitung ist gefragt

Palliative Care wurde erst vor Kurzem in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung verankert. Oft wird sie mit einer einfachen Schmerztherapie in der Sterbephase gleichgesetzt. Laut Borasio geht es um "weit mehr als Morphium und Händchenhalten ". Die Kontrolle physischer Symptome wie Schmerzen oder Atemnot mache in der klinischen Realität etwa die Hälfte aus. Genauso wichtig ist der andere Teil: die psychosoziale und spirituelle Begleitung.

Ärztinnen und Ärzte befürchten, mit der Abgabe von Morphin das Ableben zu beschleunigen. Doch die lebensverkürzende Wirkung wird "allgemein überschätzt", wie die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften in ihren Richtlinien zu Palliativmedizin festhält. Die Frage der Abwägung stellt sich auch bei anderen Interventionen, fügt Eychmüller an: "Schwerkranke können auch an einer Notoperation oder an einer experimentellen Chemotherapie versterben, die ihre Leiden lindern soll."

Am Lebensende ist kollegiale Teamarbeit jenseits von Hierarchien gefragt: Ärztinnen und Ärzte arbeiten mit Fachleuten aus Pflege, Psychologie, Sozialarbeit und Seelsorge zusammen. Auch die Forschung ist angehalten, die Grenzen der Disziplinen zu sprengen – doch was nicht in die gängigen Studiendesigns einer naturwissenschaftlich-technisch orientierten Medizin passt, droht als "Soft Data" ignoriert zu werden.

"In der Palliativforschung muss sich erst noch eine gemeinsame Sprache entwickeln", sagt der Theologe Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich. Er untersuchte im Nationalen Forschungsprogramm "Lebensende" (NFP 67) das starke bildhafte Erleben vieler Menschen in Todesnähe. Dabei geht es um Angst, aber auch um Vertrauen. Spirituelle Begleitung sei besonders wichtig bei lebensbegrenzenden Krankheiten: "Da brechen Sinnfragen auf. Man möchte als ganzer Mensch wahrgenommen werden, auch vom Arzt." Bei seinen Medizin- und Theologiestudierenden stellt Peng-Keller "eine erfreuliche Offenheit" fest.

Oft sogar lebensverlängernd

Zwei Studien aus den USA und Japan in den letzten Jahren zeigten, dass palliativ behandelte Todkranke gleich lang oder sogar länger lebten als solche, die mit den üblichen Chemotherapien therapiert wurden – und dies bei besserer Lebensqualität.

Solche Befunde helfen laut Borasio, die Palliativmedizin vom Rand ins Zentrum zu rücken und die ganze Medizin patientenzentrierter und kommunikativer zu gestalten. Das scheint umso nötiger, als in der Schweiz heute recht häufig auf lebensverlängernde Massnahmen verzichtet wird. Doch nicht immer beziehen Ärztinnen und Ärzte die Kranken und ihr Umfeld mit in die Entscheidung ein, wie jüngst eine Studie aus dem NFP 67 ergab. Laut Mitautor Georg Bosshard, Geriater am Universitätsspital Zürich, gilt es, das umfassende Konzept auf die wachsende Zahl chronisch Kranker auszudehnen.

Allgemeingültige Kriterien für ein gutes Sterben gibt es freilich auch in der Palliativmedizin nicht. Das Sterben sei so individuell wie das Leben, sagt Gian Domenico Borasio: "Ziel ist, dass jeder Mensch seinen eigenen Tod sterben darf." Einzelne entschieden sich für assistierten Suizid, weil das für sie der richtige Weg sei, erklärt Borasio: "Mit fachkompetenter Palliativbetreuung sind es nur wenige."

Susanne Wenger ist freie Journalistin in Bern.

Palliative Care gemäss WHO

"Palliative Care dient der Verbesserung der Lebensqualität von Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels frühzeitiger Erkennung, hochqualifizierter Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur."