Tabletten, produziert im Container

Die Pharmaindustrie sucht Wege, um in modularen Fabriken stufenlos rund um die Uhr zu produzieren. Doch manche Prozesse der "Flow Chemistry" stocken noch. Von Sven Titz

(Aus "Horizonte" Nr. 108 März 2016)​​​

​Pharmazeutische Wirkstoffe herzustellen ist umständlich wie ein Staffellauf mit Hürden: Die Produktion vollzieht sich in einer langen Kette von Einzelprozessen. Ein Rührkessel nach dem anderen wird befüllt, eine chemische Reaktion nach der anderen gestartet. Manchmal finden die Einzelschritte sogar an verschiedenen Orten statt – das zieht die Produktion zusätzlich in die Länge.

Damit könnte aber bald Schluss sein. Denn die herkömmlichen "Chargenprozesse" (batch processes) sollen durch eine modernere Methodik abgelöst werden. "Kontinuierliche Verfahren" (continuous manufacturing) heisst das Zauberwort. Von nun an soll die Produktion stufenlos über die Bühne gehen.

In einem einzigen langen Reaktionsstrom werden die Ausgangssubstanzen nach und nach hinzugefügt. Dass die Produktion nicht aus dem Ruder läuft, sichern Kontrollmessungen und Rückkopplungen. Die Motivation dahinter: Per Flow-Chemie, wie das Verfahren auch genannt wird, können Pharmaunternehmen Medikamente nicht nur schneller entwickeln und produzieren, sie benötigen auch weniger Energie und Ausgangssubstanzen. Das soll die Kosten um bis zu 30 Prozent drücken. Etliche Unternehmen arbeiten daran, die neuen Produktionstechniken auf den Markt zu bringen – von Pfizer über GlaxoSmithKline bis Novartis und Lonza.

Im "Flow" von Anfang bis Ende

Ein ehrgeiziges Ziel setzten sich zum Beispiel Forschende vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Novartis im Jahr 2007: Gemeinsam wollten sie die erste Fabrik zur Herstellung von Medikamenten entwickeln, die durchgehend auf kontinuierliche Verfahren setzt. 2012 wurde eine Experimentalanlage am MIT fertig. Alle Schritte von der Chemie über die Reinigung bis zur Beschichtung der Tabletten sind integriert. Von dem Potenzial des Konzepts ist der Teamleiter Bernhard Trout vom MIT fest überzeugt: "Wir können jedes Arzneimittel effizienter und mit weniger Abfall produzieren", behauptet er. Zurzeit werden auf Basis der Experimentalanlage industriell nutzbare Anlagen zur Medikamentenherstellung entwickelt – daran tüftelt auch das Team des MIT-Spin-offs Continuus Pharmaceuticals in den USA mit.

Effizienter und flexibler herstellen

Dass sich kontinuierliche Verfahren lohnen, hat die Erdölindustrie vorgemacht: In ihren Raffinerien laufen solche Verfahren seit Jahrzehnten, etwa zur Herstellung von Kunststoffen. Vor zehn Jahren sprang der Funke auf andere Branchen über: Sinkende Gewinne bei härterem Wettbewerb schärften gerade in der Pharmaindustrie das Bewusstsein dafür, dass die Herstellung effizienter und flexibler werden muss.

Die Flow-Chemie ist nicht auf Pharmazeutika limitiert. "Es gibt keine Einschränkungen, was die Produktpalette angeht", erklärt der Chemiker Roger Marti von der Hochschule für Technik und Architektur in Freiburg. Auch im grossen Massstab produzierte Grundchemikalien und komplexe Feinchemikalien liessen sich herstellen, ausserdem Polymere und Nanopartikel.

Unumgängliche Miniaturisierung

Um die kontinuierlichen Verfahren auf die Medikamentenherstellung zu übertragen, mussten Reaktionssysteme miniaturisiert werden. Denn in der Pharmaindustrie geht es – gerade in der Entwicklung – um viel kleinere Mengen als in der Erdölindustrie. "Auch aus Sicht der Chemie hat die Miniaturisierung ihre Vorteile", meint Marti. "Zum Beispiel können Reaktionen bei höheren Temperaturen durchgeführt werden als früher."

Forschende entwarfen also spezielle Röhrchen und Mikroreaktoren, in denen sich die Reaktionen abspielen sollen. Diese bestehen oftmals aus Stahl, Glas oder Kunststoff. Neu entwickelt wurden aber nicht nur die Reaktionsbehälter, sondern auch Bauteile zur Vermischung oder Erhitzung der Substanzen. Denn geschrumpft auf ein Miniformat könnten die herkömmlichen Komponenten versagen.

Mikroreaktoren zusammensetzen

Ein typisches Beispiel für die Verkleinerung sind die Flowplate-Mikroreaktoren, die vom Unternehmen Lonza entwickelt wurden. Deren Mikroreaktoren gibt es in vier Grössen. Sie erlauben einen Fluss von wenigen Millilitern bis zu einem halben Liter pro Minute und lassen sich wie in einem Baukastensystem kombinieren. So kann man das System an verschiedene Mengenanforderungen anpassen. Gemäss Lonza eignet es sich gut dafür, einen neuen chemischen Prozess im Labor zu entwickeln und anschliessend in eine Produktionslinie umzuwandeln.

Das modulare Design ist gemäss dem Unternehmen platzsparend und kann Herstellungskosten senken. Ausserdem bietet es sichere Reaktionsbedingungen, selbst für hochreaktive oder giftige Ausgangssubstanzen. Der Prozessertrag könne eventuell gesteigert werden, wenn schnelle Mischverfahren, ein effizienter Wärmeaustausch und eine präzise Steuerung der Reaktionszeit integriert werden, heisst es. Verschiedene Reaktionstypen hat Lonza schon mit Erfolg getestet: Reaktionen von Flüssigkeiten untereinander oder zwischen Flüssigkeiten und Gasen, Oxidationen oder Reaktionen mit Brom oder Chlor zum Beispiel.

Module für den Normcontainer

Die Industrie ist auf solche modulare Systeme angewiesen. Wollen pharmazeutische Unternehmen im grossen Stil ontinuierliche Verfahren nutzen, dann sind Baukastenmodule von Vorteil, in denen die chemischen Substanzen für die unterschiedlichen Wirkstoffe produziert werden. Das würde auch die Belieferung beschleunigen. Benötigt werden dafür fle- xible Einheiten, die den Transfer von Labor- prozessen in die Pilot- und Produktionsphase erleichtern. Dabei handelt es sich um einen Sprung von wenigen Millilitern bis mehreren Kubikmetern pro Jahr.

Darum wurden im EU-Forschungsprojekt F3 Factory, das von 2009 bis 2013 mit einem grossen Konsortium lief, praktische Module entwickelt. Ihre Grösse orientiert sich an den Dimensionen von Normcontainern, die 6 Meter lang und 2,4 Meter breit und hoch sind. In jeden Container passen 40 Module. Im EU-Projekt wurden mit solchen Modulen zum Beispiel chemische Zwischenstufen für ein Testmedikament zur Krebstherapie hergestellt.

Jetzt werden die Module weiter verfeinert, und zwar im Forschungszentrum Invite in Leverkusen, das die Bayer Technology Services gemeinsam mit der TU Dortmund betreiben. Dabei wird an vielen Schräubchen gedreht: Man arbeitet an der Regelungstechnik ebenso wie an der Aufbereitung der Wirkstoffe für die Medikamente. "Unser Zentrum heisst nicht umsonst Invite", sagt Thomas Bieringer, der frühere Geschäftsführer von Invite. "Wir sind eine Public-Private-Kooperation, und externe Partner sind eingeladen, mit uns gemeinsam neue kontinuierliche Verfahren zu entwickeln und auszuprobieren."

Heikle Kristalle

Dabei müssen noch einige Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. "Bei einem Teil der chemischen Prozesse kann es passieren, dass Kanäle verstopften", so Bieringer. Manchmal entstünden während der Reaktion Feststoffe, die einen Prozess blockierten. Dann versuchen die Forschenden, die Reaktionsbedingungen entsprechend zu steuern – etwa durch Rückkopplungsschleifen. Falls das klappt, kann eine drohende Verstopfung frühzeitig erkannt und so vermieden werden.

Das volle Potenzial der Flow-Chemie für die Pharmaindustrie muss noch abgerufen werden. Vielerorts arbeiten Wissenschaftler zum Beispiel daran, geeignete Kristallisationsprozesse zu den stufenlosen Verfahren hinzuzufügen. Das würde bei der Herstellung von Medikamenten in Tablettenform helfen. Ausserdem müssen die Fachleute die neuen Prozesse so sicher machen, dass die Produktionslinien von den Behörden abgenommen werden. Das alles braucht seine Zeit. Doch schon bald könnte es Normalität werden, dass die Tabletten, die auf dem Nachttisch liegen, in einer Mini-Raffinerie hergestellt worden sind.

Der Wissenschaftsjournalist Sven Titz lebt in Berlin und schreibt regelmässig für die NZZ, den Tagesspiegel und die Welt der Physik.