Verhüllung und Entblössung

Frauen mit Schleier © Yale University, Beinecke Library, Ms. 457

Der Schleier steht heute für einen rückwärtsgewandten Islamismus. Es gibt ihn aber auch in der westlichen Kultur. Ende des 16. Jahrhunderts war er beispielsweise Teil des Verführungsspiels venezianischer Kurtisanen. Von Susanne Leuenberger

​Rückenansicht einer wohlproportionierten Badenixe im gelben Tanga vor Sonnenuntergang im Meer: Postalische "Baci dall’Italia" erinnerten in den 1970er Jahren daran, dass südlich der Alpen immer die Sonne scheint. Und ergo die Grüssenden einen Platz an der Sonne haben mussten, auch im richtigen Leben. Ins Bild gesetzte Rundungen als Garant kleinbürgerlicher Abenteuer.

Lange vor dem Massentourismus in das "Bel Paese" zieren pikante Illustrationen südländischer Schönheiten die Tagebücher Italienreisender und von Studenten: Venezianische Frauen präsentieren im ausgehenden 16. Jahrhundert offenherzige Dekolletés, ihr Gesicht hingegen bleibt der damaligen Sitte gemäss verschleiert. "So wie wir heute Ferienfotos nach Hause bringen, haben die Studenten in der Renaissance ihre Reise mit Bildern dokumentiert. Beliebt waren kokette, exotisch anmutende Darstellungen italienischer Frauen", sagt Henri de Riedmatten vom Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich.

Um die Mitte des Cinquecento kamen die "Alba Amicorum" auf. Eines der überlieferten Freundschaftsalben gehörte einem bretonischen Studenten, der sich 1575 zum Studium in Padua aufhielt. Wie viele seiner Mitstudenten hatte er das Album vor der Abreise von seiner Familie erhalten. Der junge Mann dokumentierte darin Freundschaften, Erlebnisse, Erstaunliches und Interessantes. Kommilitonen fertigten Zeichnungen ihrer Familienwappen an, Professoren hinterliessen schriftliche Widmungen.

Das Album enthält zudem 105 Bilder, auf denen italienische Kleidermoden zu sehen sind, lokale Trends aus Venedig und Padua. Die Aquarelle wurden von Künstlern auf dem Markt angeboten. Manchmal engagierten Studenten die Miniaturisten, damit sie eine bestimmte Szene abzeichneten. Einige Bilder entstanden so auf der Strasse. Sie zeigen Priester und Professoren in ihrem lokalen Habit – und vor allem Frauen: unverheiratete "Donzelle" (Fräulein), verheiratete "Gentildonne" (Damen), Witwen und Greisinnen bevölkern das Album. Und Kurtisanen.

Mit blossen Brüsten

Die Boomjahre erlebten die "Alba Amicorum" ab den achtziger Jahren des Cinquecento. Gemeinsam mit dem Freiburger Kunstwissenschaftler Victor I. Stoichita analysiert Riedmatten die darin zu findenden Bilder der lokalen Frauen: "Die damalige Mode veränderte sich schnell. So war schwarz nicht unbedingt ein Zeichen der Trauer, sondern verwies auf die venezianische Herkunft der Trägerin." Abstufungen von Bedecktheit oder Offenheit der Bekleidungen verweisen auf den gesellschaftlichen Status der Frauen.

Das Verbergen oder das Zeigen des Gesichts diente der sozialen Zuordnung: Unverheiratete Fräulein trugen dunkle dichte Gesichtsschleier, Trauernde verhüllten ihr Antlitz mit hellem, durchsichtigem Tuch, Verheiratete zeigten ihr Gesicht offen, wenn sie auf der Strasse promenierten: "Mit der Heirat erlangte eine Frau öffentlichen Status. Darum konnte sie ihr Gesicht zeigen." Die abgebildeten jungen Frauen kommen trotz Gesichtsschleier mitunter sehr freizügig daher: "Es gibt auch schriftliche Quellen, die beschreiben, dass die Frauen zu jener Zeit barbusig gekleidet waren", so Riedmatten.

Dennoch zeigten die stereotypen Darstellungen mehr Wunsch als Wirklichkeit: "Die Buchbesitzer stilisierten sich als Abenteurer. Dabei wurde auch ein idealisiertes Italienbild konstruiert." Neben den "Fräulein" und den eleganten Damen sind auch Kurtisanen beliebtes Sujet der Reisetagebücher. Ein gelüfteter Schleier, kokette Gesten oder ein allzu verschmitztes Lächeln hinter dem halbtransparenten Trauerschleier verraten, dass die abgebildeten Modelle "leichte Mädchen" waren.

Mehr als 1500 Studenten aus 22 Nationen zog die Universitätsstadt Padua um 1600 an. Sie kamen aus Frankreich, Deutschland, Skandinavien oder England, um Jura zu studieren, aber auch Astronomie, etwa bei Galileo Galilei. Auch das Leibliche kam nicht zu kurz: In Padua, Bologna und in dem nahe gelegenen Venedig, so Riedmatten, gab es zu jener Zeit viele Prostituierte. "Als 1582 in Padua ein mehrmonatiger Studentenbann herrschte, beklagten sich die Prostituierten lautstark über zu wenig Arbeit", sagt der Wissenschaftler. Unter den Prostituierten bildeten die Kurtisanen eine Art Elite.

Eigensinn und Innovation

Riedmatten interessiert sich besonders für die Verkleidungsspiele der Kurtisanen: "Diese Bilder zeigen keine Subjekte. Die Abgebildeten sind Mannequins. Gesichtslos, stereotyp und austauschbar." Natürlich, so der Kunsthistoriker, zeugen die Illustrationen zunächst vom männlichen Blick von Auftraggeber und Besitzer: Die verführerische Frau, deren Blick dem männlichen Betrachter verborgen bleibt, sei eine gängige "abendländische Modalität" des Schauens. Eine gendertheoretische Blickkritik sei aber nicht sein primäres Forschungsinteresse, obwohl er methodisch mit Ansätzen der Gender Studies arbeite.

Gerade in der Serialität, in der entindividualisierten Darstellung der barbusigen gesichtslosen Frauen sucht er Spuren von Eigensinn und kultureller Innovation. Die Kurtisane, eine Figur ohne klaren Status in der ständischen Gesellschaft, so Riedmatten, war keinen Kleidervorschriften unterworfen. Vielmehr bediente sich die Edelprostituierte aller anderen Kleiderstile und Verhüllungsformen: Mal schlüpfte sie ins Gewand einer "Donzella", mal imitierte sie eine "Gentildonna", mal gab sie sich als Adlige oder Trauernde: "Mit ihrem Verkleidungsspiel variierte sie die Bekleidungsnormen." Und mit der Überschreitung von Kleiderordnungen setzte sie mitunter modische Akzente.

Es sei der prekäre, unbestimmte Status der Kurtisane, der modische Individualität und kulturellen Wandel hervorbringe. "Manche Kurtisanen brachten es als Musen von Adligen zu Ansehen und Ruhm. Einige bewohnten Paläste am Canal Grande", meint der Forscher. – Freilich waren die "Cortigiane" eine kleine Minderheit unter den Prostituierten: Die meisten waren arm und starben früh, etwa an der grassierenden Pest.

Susanne Leuenberger ist Redaktorin der "Reformierten Presse".

(Aus "Horizonte" Nr. 102, September 2014)