Schockstarre oder Flucht?

Neurowissenschaftler untersuchen, wie Schaltkreise im Gehirn das Verhalten in gefährlichen Situationen steuern. Für die Entscheidung bleiben oft nur Bruchteile von Sekunden. Von Yvonne Vahlensieck

​​(Aus "Horizonte" Nr. 114 September 2017)​​​

Wenn eine Maus einer Schlange begegnet, muss sie blitzschnell entscheiden, muss sie blitzschnell entscheiden, welches Verhalten die beste Überlebenschance bietet: In eine Schockstarre verfallen und so für den Räuber unsichtbar werden? Oder schleunigst die Flucht ergreifen? In diese – unbewusst gefällte – Entscheidung fliesst eine Vielzahl von Faktoren mit ein, etwa der Abstand zum Feind,die Verfügbarkeit eines Fluchtwegs, frühere Erfahrungen und der Gesundheitszustand der Maus.

Eine wichtige Schaltstelle für dieses Angstverhalten befindet sich in einem mandelförmigen Bereich des Gehirns, der sogenannten Amygdala. "Alle Informationen, die eine Verhaltensreaktion beeinflussen können, werden aus den verschiedensten Regionen des Gehirns in die Amygdala eingespeist und dort verarbeitet", sagt der Neurowissenschaftler Andreas Lüthi. Mit seiner Arbeitsgruppe am Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research in Basel hat er untersucht, welche Prozesse dabei in der Amygdala der Maus ablaufen.

Schaltkreise kontrollieren die Angst

Die Forscher interessierte besonders, wie die Entscheidung zwischen zwei völlig verschiedenen Verhaltensweisen – der passiven Schockstarre und der aktiven Flucht – getroffen wird. Hierfür trainierten sie ihre Versuchstiere darauf, beim Hören eines reinen Tons in die Schockstarre zu verfallen und beim Abspielen einer Mischung von Tönen das Fluchtverhalten zu zeigen. Zudem veränderten sie mit Hilfe eines genetischen Verfahrens die verschiedenen Typen von Nervenzellen in der Amygdala so, dass diese bei einer Bestrahlung mit gelbem Licht gehemmt wurden. Dies ermöglichte den Forschern, bestimmte Nervengruppen gezielt auszuschalten und zu beobachten, welche Auswirkung dies auf das Verhalten der Mäuse hatte.

Die Experimente zeigten, dass zwei Gruppen von Nervenzellen das Angst- verhalten kontrollieren: Eine Gruppe ist für das Auslösen der Schockstarre, die andere für das Fluchtverhalten zuständig. "Es scheint so, dass in der Amygdala ein Schalter liegt, der umgelegt werden kann", so Lüthi. Ausserdem sind die beiden Nervengruppen eng miteinander verknüpft: Die Aktivierung der Schockstarre hemmte die Fluchtantwort und umgekehrt – so wird verhindert, dass die Amygdala den Befehl für zwei widersprüchliche Verhaltensweisen an die Muskeln weitergibt.

Störungen besser verstehen

"In diesem Fall arbeiten zwei Typen von Nervenzellen gegenläufig zueinander, um eine klare Alles-oder-nichts-Reaktion auszulösen", erklärt Fritjof Helmchen, Co-Direktor des Instituts für Hirnforschung der Universität Zürich. "Die Studie ist ein Paradebeispiel dafür, wie man mit Hilfe neuer Methoden in einem wachen Tier genau analysieren kann, welche Komponenten in einem Schaltkreis von Nervenzellen für ein bestimmtes Verhaltensmuster ausschlaggebend sind." Helmchen, der selber nicht an der Studie beteiligt war, geht davon aus, dass Erkenntnisse aus dieser Art von Versuchen in den nächsten Jahrzehnten auch Anwendung in der Humanmedizin finden könnten, denn vielen psychischen Erkrankungen lägen veränderte Verschaltungen und fehlgeleitete Informationsflüsse in den Schaltkreisen im Gehirn zugrunde.

Auch Lüthi glaubt, dass seine Resultate grundsätzlich auf den Menschen übertragbar sind: "Die Struktur der Amygdala ist evolutionär stark konserviert und deshalb beim Menschen im Prinzip gleich aufgebaut wie bei der Maus. Angststörungen beim Menschen beruhen oft darauf, dass dieses alte System dominiert und nur schwer bewusst zu kontrollieren ist." Er weist allerdings auch darauf hin, dass menschliche Verhaltensmuster viel komplexer und vielfältiger sind: "Menschen gehen beispielsweise oft bewusst ein grösseres Risiko ein, um Neues zu entdecken und daraus vielleicht einen Vorteil zu ziehen – für eine kleine Maus wäre dies eher eine schlechte Strategie."

Yvonne Vahlensieck ist freie Wissenschaftjournalistin in der Nähe von Basel.