"Man sollte nie unbedacht Versprechen machen"

Patrick Aebischer wird Ende 2016 als Präsident der EPFL zurücktreten. In seiner 16-jährigen Amtszeit hat er die Lausanner Hochschule grundlegend neu ausgerichtet und als eine der weltbesten Einrichtungen etabliert. Eine Bilanz. Von Daniel Saraga

(Aus "Horizonte" Nr. 109 Juni 2016)​​​

Im Jahr 2000 übernahm an der Ecole polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) ein Outsider das Ruder: der 44-jährige Patrick Aebischer, Professor am Universitätsspital Lausanne. Sein Ziel war es, die Life Sciences an die Technische Hochschule zu bringen, die Einrichtung zu amerikanisieren und sie wettbewerbsfähiger zu machen.

Doch sein Einstieg sorgt für Turbulenzen. Seine Projekte stossen bei Professoren, Studierenden und Unternehmen auf Widerstand, und während sein Rücktritt gefordert wird, stellt er Bedingungen: Patrick Aebischer will seine Vizepräsidenten selber bestimmen. Er weigert sich, sein Büro zu betreten, bis der ETH-Rat nach zweiwöchigem Tauziehen nachgibt.

Sechzehn Jahre später sind die Ziele erreicht oder übertroffen: Die EPFL gehört zu den führenden Forschungszentren Europas und hat sich mit spektakulären Projekten einen Namen gemacht, vom Human Brain Project über Solar Impulse bis zum Rolex Learning Center. Doch der Stil von Aebischer – visionär und willensstark – ruft auch Kritik hervor. Horizonte hat den Präsidenten der EPFL im Frühling 2016 zu einem Gespräch getroffen, in dem er seine Vision der akademischen Welt und sein Verständnis von Leadership verteidigt.

Sie haben Ihr Mandat mit einer Kraftprobe begonnen. War das ein Bluff?

Mir wurde es verweigert, mein Führungsteam selber zu bestimmen. Für mich ging es um alles oder nichts: Falls es nicht funktioniert hätte, wäre ich zurück in die USA. Ich hatte meine Absichten im Voraus klar formuliert. Der ETH-Rat dachte wohl, dass ich nach meiner Ernennung anders denke ... Doch damit ich meine Projekte umsetzen konnte, musste ich mein Team selber zusammenstellen. Diese Konfrontation war nicht einfach auszuhalten: Von allen Seiten kamen Schläge – das ist wie in einer Wäschetrommel! Das Vorgehen fiel mir auch nicht leicht, weil ich als Forscher zufrieden war. Vermutlich spielte auch mein noch eher unbeschwertes Alter eine Rolle.

Sie kamen von einer anderen Einrichtung und aus einer anderen Disziplin, der Medizin. Fehlt es in der Schweiz an solchen Quereinsteigern?

Ja, das gibt es zu selten. Eine solche Konstellation kann für mehr Freiheit sorgen. Manchmal kommt in der Geschichte einer Institution der Zeitpunkt für tiefgreifende Reformen, und da hilft neues Blut. Gleichzeitig gelten für den Posten als EPFL-Präsident politische Kriterien, man muss das Land kennen.

Die Wahl Ihres Nachfolgers steht für Kontinuität: Martin Vetterli ist 58-jährig und unterrichtet seit 21 Jahren an der EPFL. Ist das ein Problem?

Nein, es muss nicht jedes Mal alles geändert werden. Die EPFL tritt jetzt in eine Konsolidierungsphase ein, auch wenn ich dieses Wort nicht mag. Ich habe grossen Respekt vor Martin. Das nächste Mal soll die nachfolgende Generation die Zügel übernehmen.

Welches waren Ihre drei wichtigsten Siege an der EPFL?

Das Tenure-Track-System für junge Assistenzprofessoren, der Aufbau der Doktoratsschule und die Weiterentwicklung der Fakultäten.

Tenure-Track bedeutet akademische Unabhängigkeit für die jungen Forschenden. Es gibt ihnen die Möglichkeit für eigene Forschungsprojekte. Das hat die EPFL grundlegend verändert.

Dann die Doktoratsschule. Es werden Kandidierende eingeladen, unter denen wir die besten auswählen. Auch die Professoren stehen in einem Wettbewerb, da die Doktorierenden wählen, in welcher Gruppe sie arbeiten möchten.

Als ich anfing, gab es zwölf Departemente, deren Leitungen alle zwei Jahre wechselten. Wir haben diese zu fünf Fakultäten zusammengelegt und den Posten der Dekane geschaffen, die mehrmals für jeweils vier Jahre gewählt werden können. Diese übernehmen viel Verantwortung, unter anderem, die besten Dozierenden und Forschenden anzustellen.

Trotz der Widerstände ist es Ihnen gelungen, vieles zu ändern. Ihre Technik?

Ich bin in den ersten zwei Jahren praktisch nicht gereist, um "Management by walking around" zu machen: die Professoren intern treffen und sie persönlich überzeugen. Ich habe mich stark auf Forschende gestützt, die das amerikanische System gut kannten und mein Projekt verstanden.

Ihre Revolution an der EPFL im Jahr 2000 gelang, diejenige von Ernst Hafen an der ETH Zürich sechs Jahr später scheiterte. Weshalb?

Alles, was er wollte, schien mir richtig. Doch unsere Kulturen sind anders. Bei unserer grossen Schwester in Zürich gab es proportional gesehen weniger Forschende, die in den USA Karriere gemacht hatten. Ausserdem hat sie eine wesentlich längere Geschichte, was Reformen schwieriger macht.

Sie kommen immer wieder auf das amerikanische Modell zurück.

Ja, diese Kultur hat mich stark geprägt. Ein meritokratisches System, das Innovation fördert. Zahlreiche Forschende aus der Schweiz oder Europa, die in den USA arbeiten, möchten zurückkommen, häufig aus familiären Gründen, wünschen sich aber ein Umfeld, das den Verhältnissen in den USA ebenbürtig ist. Das versuchten wir an der EPFL zu schaffen. In den USA sind die Leute sehr stolz, den Namen ihrer Universität zu tragen – wir wollen die Marke EPFL weiterentwickeln. Wenn ein Taxifahrer in Lausanne sagt, dass er stolz auf die Hochschule ist, haben wir es geschafft.

Im Strategic Advisory Board der Hochschule sind mehrere Personen aus der Industrie vertreten.

Neben Ausbildung und Forschung haben wir die Aufgabe eines Wissenstransfers. Unsere Studierenden müssen Stellen finden, und wir müssen verstehen, was die Privatwirtschaft bei unseren Abgängern sucht. Mehrere Mitglieder des Boards haben auch grosse Projekte der Hochschule finanziell unterstützt.

Zu unseren grossen Erfolgen gehört der Innovationspark, in dem über hundert Start-ups und Grossunternehmen wie Nestlé, Intel, Peugeot oder Logitech vereint sind. Unsere hervorragende Forschung soll zur wirtschaftlichen Entwicklung der Westschweiz beitragen. Ich stelle erfreut fest, dass die Zahl unserer Studierenden, die Start-ups gründen, deutlich zunimmt.

Ihre Zeit als Präsident war auch die Zeit des privaten Sponsorings.

Alle waren überzeugt, dass Fundraising in der Schweiz unmöglich ist, aber niemand hatte es je richtig versucht. Ich habe viel Zeit damit verbracht, ein Netz aufzubauen. Dass ich im Künstlermilieu aufgewachsen bin, hat mir dabei geholfen, da ich mich in allen Gesellschaftsschichten wohl fühle.

Das Sponsoring von Lehrstühlen hat Kritik hervorgerufen. Weshalb besteht ein Vetorecht bei der Vergabe eines Lehrstuhls?

Dass ein Unternehmen, das einen Lehrstuhl finanziert, bei der Ernennung ein Mitspracherecht hat, ist normal. Falls das Unternehmen nicht einverstanden ist, kann es eine Finanzierung ablehnen, uns aber nicht daran hindern, die Person anzustellen. Bei einem gesponserten Lehrstuhl besteht dieselbe wissenschaftliche Freiheit wie bei Lehrstühlen, die vom öffentlichen Sektor unterstützt werden.

Diese Frage sollte bereits bei der Beschreibung des Lehrstuhls geregelt werden.

Deshalb ist dies noch nie vorgekommen.

Sie haben Rolex die Rechte am geistigen Eigentum für gemeinsame Forschung überlassen. Ist das nicht diskutabel?

Normalerweise werden Lizenzgebühren ausgehandelt. Im Fall von Rolex haben wir darauf verzichtet, als Kompensation für namhafte Beträge, die das Unternehmen für den Bau des Learning Center bereitstellte. Diese Beträge waren höher als die Summen, die wir uns aus Lizenzgebühren hätten erhoffen können. Dank Rolex konnten wir etwas realisieren, das für die Hochschule zentral ist.

Die Schweiz bietet eine weltweit einzigartige Unterstützung für Grundlagenforschung. Die Nähe zur Wirtschaft könnte sich negativ darauf auswirken.

Diese Unterstützung ist zentral. Ohne Grundlagenforschung gibt es später auch keinen Wissenstransfer. Fast ein Drittel unserer Professorinnen und Professoren haben ein ERC-Stipendium errungen, und wir publizieren regelmässig in den besten Fachzeitschriften. Das alles ist Grundlagenforschung! Nicht unsere Forschenden sind in Gefahr, durch die Industrie manipuliert zu werden, sondern umgekehrt. Die Unternehmen kommen auf uns zu, um zu vermeiden, dass sie den nächsten technologischen Durchbruch verpassen.

Das Wachstum der EPFL basiert auch auf dem Erfolg anderer Einrichtungen, zum Beispiel der Integration des Instituts für Mikrotechnik (IMT) in Neuenburg oder des Krebsforschungsinstituts ISREC. Ist es für die übrigen Institutionen nicht entmutigend, wenn sie ihre beste Forschung verlieren?

Die Übernahme des IMT war eine Notwendigkeit, da die Universität Neuenburg nicht über die Mittel für das erforderliche Wachstum verfügte. Die Universität konnte nachher in strategische Bereiche Geld investieren, das durch diese Übernahme frei geworden war. Das IMT bestand aus vier Lehrstühlen, heute sind es zwölf. Alle haben profitiert. Dasselbe gilt für das ISREC.

Die EPFL ist bekannt dafür, dass sie spektakuläre Programme ankündigt, bevor konkrete Ergebnisse vorliegen, wie mit dem Human Brain Project (HBP) und der Venice Time Machine. Befürchten Sie nicht einen Bumerang-Effekt, falls die Projekte nicht zum Erfolg führen?

Das Human Brain Project wurde auf dem Projekt Blue Brain der EPFL aufgebaut, das bereits so viele Ergebnisse vorweisen konnte, dass es als eines der beiden Projekte ausgewählt wurde, welche die EU im Rahmen der Flaggschiff-Initiative mit einer Milliarde Euro über zehn Jahre finanziert. Zwei Jahre nach der Lancierung hat das HBP nun einen wichtigen Fachartikel in Cell veröffentlicht. Tatsächlich ist es aber in der Wissenschaft schwierig abzuschätzen, welche Ergebnisse über einen Zeitraum von zehn Jahre anfallen. Das Human Genome Project versprach zum Zeitpunkt seiner Lancierung viel. Bis es wirklich Auswirkungen auf die Medizin hatte, dauerte es aber länger als erwartet. Heute bestreitet aber niemand mehr die Berechtigung des Projekts. Ich hoffe, dass dies auch beim HBP so sein wird.

Gibt es nicht Grenzen bei dem, was die Forschenden versprechen können?

Man sollte nie unbedacht Versprechen machen, vor allem nicht in der Medizin.

Bedauern Sie Ihren Weggang?

Ich freue mich, wieder ein freier Mensch zu sein. Ich war sehr glücklich in dieser Funktion, aber es war auch ein ständiger Kampf gegen Stillstand, risikoscheues Denken und festgefahrene Strukturen.

Haben Sie konkrete Pläne?

Mich reizt die Kombination verschiedener Welten: Wissenschaft, Technologie, Unternehmertum, Kunst. Die grossen Projekte werden interdisziplinär und integrativ sein. Wer an der Schnittstelle zwischen Disziplinen arbeiten will, muss institutionelle Grenzen durchbrechen, sich von überflüssigen administrativen Zwängen befreien und die notwendigen Freiräume schaffen.

Was werden Sie als Erstes tun, wenn Sie im Dezember 2016 Ihre Bürotür endgültig schliessen?

Wir organisieren ein grosses Weihnachtsfest für die gesamte Hochschule, an dem ich den Stab an Martin (Vetterli, A.d.R.) weitergeben werde. Danach werde ich nach Kapstadt in Südafrika reisen und mich einer Polarexpedition anschliessen, die vom Swiss Polar Institute organisiert wird, einem neuen Projekt der EPFL.

Daniel Saraga ist Chefredaktor von Horizonte.

Von der Kunst zur Wissenschaft

Patrick Aebischer wurde in eine Künstlerfamilie geboren, studierte Medizin und Neurowissenschaften in Genf und Freiburg und forschte acht Jahre an der Brown University in den USA. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz 1992 war er als Professor am Universitätsspital Lausanne tätig, bevor er 2000 die Leitung der EPFL übernahm, ohne sich ganz von der Forschung abzuwenden: An einem Morgen pro Woche begibt er sich in sein Labor am Brain Mind Institute. Während seines Präsidiums publizierte er 126 Artikel, den letzten über ein Implantat gegen Alzheimer. Er ist Mitbegründer von drei Start-ups.

In Zahlen

2000

2015

Anzahl Studierende

4'899

10'124

Doktorierende

702

2077

Postdocs

100

825

Professor/-innen

180

380

Ranking (Shanghaiund QS-Ranking)

104a

70

Start-ups, gegründet in 5 Jahren

52b

81c

Mittel für Start-ups in fünf Jahren (CHF)

100 Mio.b

700 Mio.c