"Wir schaffen Architektur, und sie schafft uns"

Abstrakte Architektur.  © SNF

Die Ideale einer Nation schlagen sich in ihren repräsentativen Bauten nieder. Indem die Kunsthistorikerin Anna Minta diese Bauten deutet, fühlt sie der politischen Kultur von Demokratien den Puls. Von Urs Hafner

(Aus "Horizonte" Nr. 104, März 2015)Bücher, überall Bücher: An fast jeder Wand der Wohnung steht ein mit Bildbänden und Broschüren gefülltes Regal. "Mein Lebenspartner ist auch Kunsthistoriker", sagt Anna Minta, als sie den erstaunten Blick des Besuchers bemerkt. In der Ecke des Arbeitszimmers spannt sich zwischen den Regalstützen ein weisses Tuch. "Die Zwillinge haben eine Höhle gebaut. Sie erobern allmählich alle Räume." Die Spiele der Kinder, die Schriften und Bilder der Bücher: Lebendig fühlt man sich zwischen diesen Wänden.

Was die Menschen in ihren Lebensräumen bauen, wie sich politische Gemeinschaften architektonisch ausdrücken, wie sich Demokratien repräsentieren und wie dies wiederum auf die Menschen wirkt, das ist Anna Mintas Forschungsfeld: "Wir schaffen Architektur, und die Architektur schafft uns." Wenn man sie zu lesen weiss, erzählen die Repräsentationsbauten viel über die politische Kultur, die kulturellen Ideale und die inneren Kämpfe einer Nation.

Zum Beispiel? Eloquent skizziert die Kunsthistorikerin die verwickelte Geschichte des Berner Bundeshauses, die – wie könnte es anders sein – auch eine Geschichte des schweizerischen Austarierens ist. Am Ende des 19. Jahrhunderts war an prominenter Stelle, wo heute die Universität über der Altstadt thront, die Errichtung eines Kapitols nach dem Vorbild der USA, der "Sister Republic", geplant, doch das Projekt fand keine Mehrheit. Wichtig sei auch der Protest der städtischen Gastronomie gewesen, die das politische Machtzentrum nicht an den damaligen Stadtrand ziehen lassen wollte. "Der Einfluss der Wirtschaft wird oft unterschätzt", sagt Anna Minta.
Die kürzlich abgeschlossene Renovation des Bundeshauses, das architektonisch Anleihen beim Renaissance-Stil der oberitalienischen Stadtrepubliken macht, findet die Wissenschaftlerin denkmalpflegerisch äusserst gelungen. Man habe das Gebäude stellenweise wieder in den Ursprungszustand von 1900 versetzt, ohne Mittel und Aufwand zu scheuen. Erstaunt hat sie, dass man bei der Renovation kaum aktualisierend eingegriffen hat, um staatspolitische Ideale zu revitalisieren, etwa mit zeitgenössischen Kunstwerken. Der Reichstag in Berlin beispielsweise drücke mit seiner gläsernen Kuppel Transparenz aus und mache, indem er die vom Zweiten Weltkrieg herrührende Beschädigung des Gebäudes offenlege, die Brüche der Geschichte zum Thema. Für das Regierungsgebäude in Bonn, der Hauptstadt Westdeutschlands nach dem Krieg, habe man eine zurückhaltende Architektursprache gewählt: "Nach dem totalitären Nationalsozialismus inszenierte man Bescheidenheit und Offenheit."

Heilige Räume der Moderne

In ihrem neuen Forschungsprojekt will die SNF-Förderungsprofessorin an der Universität Zürich zusammen mit drei Doktorandinnen die "heiligen Räume der Moderne" im kulturellen Kontext von Christentum, Judentum und Islam untersuchen. Heilige Räume in einer vorwiegend säkularisierten Welt, gibt es die noch? Das Thema sei aktuell, entgegnet Anna Minta – und führt stichwortartig an, wo Religion für politische Zwecke instrumentalisiert werde und sich in Aktivitäten des Bauens und Zerstörens niederschlage: die zivilreligiöse Tradition der USA ("In God we trust"), Synagogenschändungen, die Zerstörung von sakraler Kunst in Timbuktu, die "politischen Religionen" des Nationalsozialismus und des Sowjetkommunismus, den islamistischen Extremismus ...

Als der Besucher noch immer skeptisch blickt, holt Anna Minta zu einem "kleinen
theoretischen Exkurs" aus: Der Westen sei nicht vollständig säkularisiert, das Profane
habe das Sakrale nicht einfach abgelöst. Menschen hätten noch immer das Bedürfnis
nach "sakralen Symbolsystemen und gesellschaftlicher Ordnungsstiftung".
Beides habe während Jahrhunderten die Religion gewährleistet – wobei Religion
ein soziales Konstrukt sei, wie die Wissenschaftlerin betont: "Nichts ist von sich
aus heilig." Um 1800 sei das dominierende "Transzendenzparadigma" der Kirche,
mit dem sie sich als normgebende und unhinterfragbare Institution behauptet
habe, durch jenes der Nation abgelöst worden. Die Nation habe die Institutionen der Politik und der Kunst geschaffen. Sie manifestiere sich in "auratischen Alternativorten" wie Parlamentsgebäuden und Museen, setze Werte, stifte Gemeinschaft und verorte diese in der Vergangenheit und der Zukunft. Wie eine Nation das tue und welche neuen, sakral anmutenden Räume entstehen, das untersuche sie, sagt Anna Minta.

Engagement für den Mittelbau

Die Kunsthistorikerin bewegt sich indes nicht nur im "Numinosen", im Göttlichen,
das im Weltlichen wohne, sondern engagiert sich auch berufspolitisch. Im
Vorstand der Mittelbauvereinigung der Universität Bern hat sie jahrelang für die
Einrichtung von Tenure-Track-Professuren gekämpft. Sie sei froh, dass sie nun die Förderungsprofessur bekommen habe. Dieses Instrument gebe ihr die grossartige Möglichkeit, eine eigene Forschungsgruppe aufzubauen und selber zu forschen und
zu lehren. Die Schweiz müsse weiterhin in die europäische und internationale Forschungslandschaft eingebunden bleiben, um exzellente Standards zu halten – die
nur noch teil-assoziierte Beteiligung an EU-Rahmenprogrammen wie "Horizon
2020" sei daher eine Katastrophe.

Hätte sie die Professur nicht erhalten, stünde sie nun vor einer ungewissen Zukunft.
"Dass jemand jahrelang erfolgreich arbeitet, sich habilitiert und dann an der
eigenen Universität nicht mehr weiterbeschäftigt werden kann, passiert in der
akademischen Welt immer wieder, ist aber unhaltbar", sagt Anna Minta. Da müsse
man sich nicht wundern, wenn die jungen Leute keine akademische Karriere
in Angriff nähmen. Sie wünscht sich für die Geisteswissenschaften ähnliche Verhältnisse wie an andern Fakultäten, wo einzelne Ordinarien in mehrere Dozenturen umgewandelt worden seien, was dem Mittelbau neue Perspektiven biete: "Das scheint ganz gut zu funktionieren."

Urs Hafner ist Journalist und Historiker.

Anna Minta

Die Kunsthistorikerin Anna Minta ist SNF-Förderungsprofessorin am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich. Zuvor befasste sie sich an der Universität Bern mit der politischen Dimension repräsentativer Architektur in Demokratien (Washington, Bern, Jerusalem). Anna Minta hat mit ihrem Lebenspartner zwei Kinder. Geboren wurde sie 1970 in Düsseldorf.