Aus Ermüdung brechen

ein Piktogramm einer turnenden Figur. © Horizonte

Wenn Knochen wiederholt stark belastet und also gestresst werden, treten Mikrorisse auf. Diese bleiben oft unentdeckt, bis der Knochen bricht. Wie können die Risse verhindert und behandelt werden? Von Anton Vos

Fast zwanzig Prozent aller Sportverletzungen gehen auf das Konto von Ermüdungsbrüchen. Das Problem: Die Vorboten solcher Brüche, die durch ständig wiederholte mechanische Belastung des Skeletts auftreten, sind feine Risse, die sich mit medizinischen Röntgenbildern kaum aufspüren lassen, bevor es zu spät ist. Die Entstehung der Risse und die Mechanismen ihrer Ausbreitung im Knochengewebe hat Claire Acevedo, Post-Doktorandin an der University of Berkeley (Kalifornien), kürzlich experimentell mit Mäusen untersucht, mit denen sich Mikrorisse reproduzierbar herbeiführen und analysieren lassen.



"Die Ermüdungsfrakturen sind so heimtückisch, weil sie gesunde Knochen betreffen und ihnen keine ausgeprägten Krafteinwirkungen vorausgehen", erklärt Claire Acevedo. "Die Mikrorisse treten im Allgemeinen bei Knochen auf, die das Körpergewicht tragen, wie Schienbein, Wadenbein oder Mittelfussknochen. Sie sind so fein wie Haare und breiten sich langsam aus. Am häufigsten sind Hochleistungssportler, zum Beispiel Läufer und Tänzerinnen, oder Armeeangehörige im intensiven Ausdauertraining betroffen. In solchen Situationen ist die Selbstreparatur des Knochens nicht schnell genug, und die Risse akkumulieren sich."

Von solchen Brüchen sind aber nicht nur Sporttreibende betroffen. Das Risiko steigt auch mit dem Alter, bei einer verminderten Knochendichte (Osteoporose), bei Krankheiten wie Osteogenesis imperfecta (die sogenannte "Glasknochenkrankheit") oder paradoxerweise auch bei der langzeitigen Einnahme bestimmter Osteoporose-Medikamente.

Selbstreparatur

Weil sich die Risse mit klassischen Röntgenaufnahmen nicht nachweisen lassen, sind die Mechanismen ihrer Entstehung und Ausbreitung in der komplexen Mikrostruktur des Knochens weitgehend unbekannt. Experimente mit lebenden Tieren sind deshalb die einzige Möglichkeit, Genaueres über diese Risse sowie die Widerstandskraft und Selbstreparatur der Knochen zu erfahren.

Claire Acevedo wählte als Studienobjekt die Maus. "Zwar wäre die Mikrostruktur der Knochen von Schweinen oder Hunden derjenigen von Menschen ähnlicher", räumt die Forscherin ein. "Die Experimente wären jedoch viel schwieriger und zeitaufwändiger gewesen als mit den Nagern. Die Tierversuche wurden in Zusammenarbeit mit der AO Foundation in Davos und der ETH Lausanne durchgeführt. In einer ersten Testserie mit toten Mäusen konnten die Parameter zur Widerstandsfähigkeit des Schienbeins bei zyklischen Krafteinwirkungen bestimmt werden, wie sie bei der täglichen Belastung des Skeletts beim Sport auftreten.



Mit deutlich besser aufgelösten Röntgenbildern, die mit Hilfe eines Teilchenbeschleunigers erzeugt wurden, konnten der Beginn und das Fortschreiten der Mikrorisse beobachtet werden. Parallel dazu entwickelte Claire Acevedo ein dreidimensionales Computermodell der Mäuseschienbeine. Sie konnte zeigen, das die hoch belasteten Bereiche, in denen die Ermüdungsrisse entstehen, durch die Form sowie die Mikroarchitektur der Knochen bestimmt werden.

Ausserdem stellte sie fest, dass die Risse von Unebenheiten an der Oberfläche des kompakten Knochens ausgehen, insbesondere von den feinen Kanälen, in denen die Nerven und Blutgefässe verlaufen. Von dort breiten sie sich über andere Kanäle und Hohlräume auf die empfindlichsten Bereiche aus. Durch seine ausgeklügelte Mikrostruktur gelingt es dem Knochen im Allgemeinen, das Fortschreiten der Risse zu stoppen oder abzulenken.

Als nächstes setzte die Forscherin ein Dutzend lebende – aber anästhesierte – Mäuse einer ähnlichen mechanischen Belastung aus, die aber deutlich vor dem Knochenbruch gestoppt wurde. Die Nager wurden nun nach unterschiedlichen Erholungszeiten (zwischen null und 14 Tagen) für die Untersuchung des Skeletts getötet. "Da wir mit dem Röntgengerät im Labor die mikroskopisch feinen Risse nicht feststellen konnten, war es, solange die Mäuse noch lebten, schwierig abzuschätzen, ob die Schienbeine bereits Risse aufwiesen", erklärt die Wissenschaftlerin. "Glücklicherweise erreichten wir dieses Ziel bereits beim ersten Anlauf."

Zukunftsmusik

Tatsächlich konnte die Forscherin mit einem Lasermikroskop diffuse Schäden in verschiedenen Entwicklungsstadien, die am Beginn von Ermüdungsrissen stehen, und die Produktion von Knochenmaterial im Rahmen der selbstreparierenden Prozesse nachweisen. "Das ist für unsere Forschung ein wichtiges Ergebnis", freut sie sich. "Es weist darauf hin, dass selbst sehr feine und diffuse Schäden bereits zur Aktivierung der Selbstreparatur des Knochens ausreichen."

Das Ziel der Studien besteht darin, eine Methode zu entwickeln, mit der solche Mikrorisse beim Menschen verhindert, frühzeitig erkannt oder sogar behandelt werden können, bevor es zu einem Ermüdungsbruch kommt. Noch ist dieses Ziel Zukunftsmusik, aber Claire Acevedo konnte mit dem Tierversuch zeigen, dass sich bestimmte Ermüdungserscheinungen des Knochens reproduzierbar herbeiführen lassen – und dies in relativ kurzer Zeit. Mit diesem Werkzeug wird sich die Forschungsarbeit fortführen und das Wissen über diese Vorgänge vertiefen lassen.

 "Die einzige heute verfügbare wirksame Behandlung ist die totale Ruhe, bei der sich die Knochen selbst reparieren", betont sie. "Nicht nur während eines oder zweier Tage, sondern während mehrerer Wochen. Eine von Mikrorissen betroffene Person verspürt zwar in einem bestimmten Stadium als eine Art Warnsignal des Körpers beträchtliche Schmerzen. Wenn sie jedoch nicht mit dem Training aufhört, sondern einfach ein Schmerzmittel nimmt und unbeirrt weitermacht, akkumulieren sich die Risse, bis es zum Bruch kommt."
(Aus "Horizonte" Nr. 102, September 2014)