Die Schweiz verliert weiter an Einfluss in der europäischen Energiepolitik

Welche Folgen hätte ein Scheitern der Verhandlungen zu einem Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU? Diese Frage haben Forschende der EPFL und der Universität St.Gallen im Rahmen des "Nationalen Forschungsprogramms Energie" untersucht und die Effekte auf den Schweizer Stromsektor, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und das Erreichen der Klimaziele beleuchtet.

War die Schweiz früher ein wichtiger Akteur im europäischen Energiesystem, verliert sie mit der Ausweitung des EU-Energiebinnenmarktes auf immer mehr Wirtschafts- und Rechtsbereiche an Einfluss. "Die Schweiz ist abhängiger von der EU geworden, umgekehrt gilt dies immer weniger. Ohne ein Stromabkommen droht ein weiterer Ausschluss der Schweiz bei der Regelung zentraler Energieangelegenheiten", beschreibt Matthias Finger von der EPFL die aktuelle Entwicklung. Peter Hettich von der Universität St. Gallen ergänzt: "Generell lässt das europäische Recht weniger Spielräume, auch im Stromsektor. Wenn die Schweiz daran festhält, in rechtlich verfestigten Bereichen Ausnahmen zu verhandeln, zahlt sie damit möglicherweise einen hohen politischen Preis".

In der Verhandlungsfalle

Alle in die Verhandlungen involvierten Akteure befürworten im Interesse der Versorgungssicherheit den Abschluss eines Stromabkommens zwischen der Schweiz und der EU. Ein solches Abkommen würde den grenzüberschreitenden Stromhandel regeln, die Sicherheitsstandards harmonisieren, den freien Marktzugang ermöglichen sowie eine Mitarbeit der Schweiz in den verschiedenen europäischen Regulierungsremien erlauben. Aktuell betrachtet jedoch die EU den Abschluss eines institutionellen Rahmenabkommens, das eine dynamische Rechtsübernahme einschliesst, als Voraussetzung für ein Stromabkommen. Ein solches institutionelles Abkommen findet aber in der Schweiz weit weniger Unterstützung und wird von vielen Akteuren als nicht mehrheitsfähig angesehen.

Unsichere, aber in jedem Fall gravierende Auswirkungen

Vor diesem Hintergrund untersuchten die Forschenden die politischen und ökonomischen Effekte von zwei gegensätzlichen Szenarien: eine "direkte Europäisierung" über ein bilaterales Stromabkommen und eine "indirekte Europäisierung" ohne Stromabkommen (etwa durch eine autonome Anpassung an den europäischen Rechtsrahmen).

  • Unabhängig vom gewählten Szenario ist die Versorgungssicherheit der Schweiz mindestens bis 2030 ausreichend. Jedoch kann sich kein Staat, auch nicht die Schweiz, auf Stromimporte verlassen: Ein Abkommen erleichtert Importe, garantiert aber nicht die Verfügbarkeit von Importenergie.
  • Auch ohne Abkommen bleiben die physischen Verbindungen mit dem europäischen Strommarkt bestehen, doch werden der Handel und die Balancierung des Netzes durch Swissgrid deutlich schwieriger.
  • Ohne Abkommen wird der Schweizer Energiesektor insgesamt ein höheres Handelsdefizit von einigen hundert Millionen Schweizer Franken pro Jahr bis zu einer Milliarde CHF im Jahr 2030 aufweisen. Die Verbraucher werden im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn einen signifikanten Aufschlag auf die Strompreise tragen müssen, der bis zum Jahr 2030 15-20 CHF pro MWh erreichen könnte.
  • Die Simulationen zeigten keine signifikanten Auswirkungen eines Stromabkommens auf den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Schweiz. Ohne ein Stromabkommen könnte es jedoch in der Schweiz zu Investitionen in Gaskraftwerke kommen, insbesondere wenn der Ausbau erneuerbarer Energien nicht stark politisch unterstützt und damit forciert wird.

Die Simulationen zeigten keine signifikanten Auswirkungen eines Stromabkommens auf den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Schweiz. Ohne ein Stromabkommen könnte es jedoch in der Schweiz zu Investitionen in Gaskraftwerke kommen, insbesondere wenn der Ausbau erneuerbarer Energien nicht stark politisch unterstützt und damit forciert wird. "Ob mit oder ohne Stromabkommen – eine langfristig und über den Stromsektor hinaus ausgerichtete Energiepolitik ist für die Energiewirtschaft, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und das Erreichen der Klimaziele entscheidend. An einer solchen Politik fehlt es jedoch", fasst Matthias Finger zusammen. Peter Hettich konkretisiert die Effekte auf den Ausbau erneuerbarer Energien: "Heute werden eher ad hoc Einzelfragen geregelt. Für viele Investoren in erneuerbare Energie sind verlässliche Rahmenbedingungen inzwischen aber wichtiger als die Frage nach finanzieller Förderung."

Peter Hettich, Philipp Thaler, Livia Camenisch, Benjamin Hofmann, Beatrice Petrovich und Rolf Wüstenhagen (2019): Europeanization of the Swiss Energy System, Dike VerlagExternal Link Icon

Matthias P. Finger und Paul van Baal: CH-EU – Beziehungen unter Strom. Chronos Verlag, erscheint 2020.

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NFP 70 und 71: das "Nationale Forschungsprogramm Energie"

In den Nationalen Forschungsprogrammen "Energiewende" (NFP 70) und "Steuerung des Energieverbrauchs" (NFP 71) des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) haben über 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in mehr als 100 Forschungsprojekten Erkenntnisse zur substanziellen Verringerung des Energieverbrauchs, zu neuen Technologien sowie zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für deren Implementierung in den kommenden 10 bis 30 Jahren erarbeitet.

Aufgrund zahlreicher Wechselbeziehungen haben die parallel laufenden NFP 70 und NFP 71 von Beginn an eng zusammengearbeitet. Beide NFP werden unter dem Titel "Nationales Forschungsprogramm Energie" anfangs 2020 abgeschlossen sein. Bereits wurden die Ergebnisse zu den Themenschwerpunkten "Akzeptanz", "Mobilitätsverhalten", "Gebäude und Siedlungen" sowie "Marktbedingungen und Regulierung" veröffentlicht. In Kürze werden die Synthesen zu den Themenschwerpunkten, "Energienetze" sowie "Wasserkraft und Markt" und im Januar 2020 das abschliessende Programmresümee publiziert.

Weitere Informationen zu den einzelnen Forschungsprojekten und zum Nationalen Forschungsprogramm "Energie" stehen ab sofort auf dem Webportal www.nfp-energie.ch zur Verfügung.

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