Frau oder Mann, amtl. bewilligt

Das Schweizer Recht geht davon aus, dass es Männer und Frauen gibt – und sonst nichts. Juristisch wären auch andere Lösungen denkbar. Von Susanne Wenger

(Aus "Horizonte" Nr. 107 Dezember 2015)​​​​Maximal 72 Stunden bleiben wir vor dem Staat namenlos und ohne amtliche Zuordnung zu einem Geschlecht. Spätestens drei Tage nach der Geburt muss ein Baby mit den vollständigen Personalien gemeldet werden. So schreibt es die Zivilstandsverordnung vor. Das Geschlecht dürfe nicht offen gelassen werden, sagt Andrea Büchler, Inhaberin des Lehrstuhls für Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Zürich. Das Zivilstandsregister kennt nur entweder weiblich oder männlich. Büchler spricht vom "rechtlichen Zwang zur Eindeutigkeit".

Die zweigeschlechtliche Ordnung zieht sich durchs ganze Recht hindurch, von der Mutterschaftsversicherung über die Militärdienstpflicht bis zur Ehe und zu Quotenregelungen. Das Recht basiere auf Annahmen, sagt die Rechtswissenschaftlerin: dass sich das Geschlecht klar bestimmen lasse und dass die Geschlechtsidentität mit dem Körper übereinstimme. Menschen mit Körpern zwischen den Geschlechtern und Transsexuelle, die im anderen Geschlecht leben möchten, stossen die vermeintlichen Gewissheiten um: "Transgender-Identitäten erschüttern das Recht in seinen Grundüberzeugungen."

Entsprechend aufwändig ist es, den Geschlechtseintrag später zu ändern – auch wenn sich die Rechtssprechung hier vorsichtig liberalisiert hat. Als Meilenstein gilt ein Urteil des Zürcher Obergerichts von 2011. Das Gericht bewilligte einen Wechsel im Zivilstandsregister von Mann zu Frau, obwohl keine geschlechtsangleichende Operation stattgefunden hatte. Auch so sei die Voraussetzung erfüllt, dass der Wechsel unumkehrbar sei, befanden die Richter. Die Person sei im "Wunschgeschlecht Frau" angekommen und wegen Hormoneinnahme nicht mehr zeugungsfähig. Für Andrea Büchler eine interessante Entscheidung im Zusammenhang mit Geschlechtswechseln. Dass ein Mann, der früher eine Frau war, ein Kind zur Welt bringt, liege dann doch nicht drin. Die Möglichkeit, sich nicht dauerhaft auf ein Geschlecht festzulegen, fehlt ganz: "Wer dies möchte, stösst an die Grenzen der rechtlichen Geschlechtskategorisierung."

Braucht es zwei Geschlechter?

Andere Länder kennen zumindest gewisse Differenzierungen. In Deutschland ist es bei Kindern ohne eindeutige Geschlechtszugehörigkeit seit 2013 möglich, den Geschlechtseintrag nach der Geburt offen zu lassen. Die "Süddeutsche Zeitung" sprach von einer "Revolution". In Australien können Intersexuelle im Pass beim Geschlecht ein X angeben. In Indien anerkannte der oberste Gerichtshof 2014 die Transgender-Gemeinschaften der Hijras als neutrales, drittes Geschlecht mit Zugang zu Minderheitsrechten.

In der Schweiz scheint eine dritte Kategorie kein gangbarer Weg. Die nationale Ethikkommission Humanmedizin plädierte 2012 zwar fürs Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Varianten in der Geschlechtsentwicklung, lehnte es aber ab, eine unbestimmte Kategorie einzuführen. Die Betroffenen würden nur noch mehr stigmatisiert, denn die Zweigeschlechtlichkeit sei "gesellschaftlich-kulturell tief verankert". Als Kompromiss empfehlen die Ethiker, die Änderung des Geschlechtseintrags im Zivilstandsregister zu vereinfachen und auf ein Gerichtsverfahren zu verzichten.

Auch Andrea Büchler hält wenig von einer dritten Kategorie: "Ein solches Sammelbecken würde der Vielfalt von Transgender-Identitäten und Formen körperlicher Geschlechtsvarianten nicht gerecht." Für sie stellt sich vielmehr die Frage, ob das Recht noch eine Kategorie Geschlecht brauche. Die Kategorisierung verletze die Persönlichkeitsrechte jener, die nicht in die binäre Geschlechterordnung passten: "Junge Menschen, die psychisch oft stark unter Druck sind, würden von Zwängen befreit, wenn wir nicht mehr amtlich als männlich oder weiblich erfasst würden."

Was also geht den Staat unser Geschlecht an? Die radikale Frage einer Wissenschaftlerin, bei der Kontroversen programmiert sind. Realpolitisch ist das Anliegen derzeit auch in milderer Form nicht vordringlich. Ein Vorstoss im Nationalrat, der verlangte, bei uneindeutigen Kindern das Geschlecht im Zivilstandsregister höchstens bis zur Volljährigkeit offenzulassen, wurde 2013 unbehandelt abgeschrieben.

Susanne Wenger ist freie Journalistin in Bern.