Auf dem Ameisenfriedhof

Kolonien genetisch eng verwandter Individuen sollten eigentlich ein ideales Tummelfeld für Krankheitserreger sein – wie Monokulturen auf Getreidefeldern. Doch Ameisen verfügen über eine soziale Immunität und erstaunliche kollektive Abwehrmechanismen. Von Ori Schipper

(Aus "Horizonte" Nr. 104, März 2015)

Ameisen lassen ihre verstorbenen Schwestern nicht im Bau verrotten. Sie tragen sie auf Friedhöfe hinaus. Dort wachsen aus den Kadavern nach einiger Zeit oft Sporenträger eines Pilzes, der die Ameisen noch zu deren Lebzeiten befallen hatte. Der Pilz wächst im Inneren der Ameisenkörper heran und entzieht den toten Ameisen Wasser. Dadurch mumifiziert er die Kadaver – aus denen schliesslich die nächste Generation todbringender Sporen wie ein dichter weisser Pelz spriesst.

Schon seit 15 Jahren beobachten die Biologen um Michel Chapuisat von der Universität Lausanne eine ausgedehnte Ameisenpopulation der Art Formica selysi im Wallis. Auf einem der Ameisenfriedhöfe hat Chapuisat für seine Experimente Sporen von Beauveria bassiana entnommen. Der nach dem italienischen Gelehrten Agostino Bassi benannte Killerpilz befällt auch eine Vielzahl anderer Insekten. Bassi wies vor 180 Jahren erstmals nach, dass das Leiden der Raupen in den damals in Frankreich und Italien weit verbreiteten Seidenspinnerzuchten durch einen biologischen Erreger ausgelöst wird (und bewies also noch vor Louis Pasteur und Robert Koch die Gültigkeit der Krankheitskeimtheorie). Heute kommt der Pilz auch als biologischer Schädlingsbekämpfer etwa gegen Schildläuse zum Einsatz.

"Eigentlich sind Ameisenkolonien ein idealer Nährboden für Krankheitserreger", sagt Chapuisat. Im Ameisenbau sei es immer warm und feucht. Wegen des regen Treibens, das im Bau herrscht, mangelt es nicht an Ansteckungsmöglichkeiten – zudem seien in Nestern mit nur einer Königin die Arbeiterinnen genetisch eng miteinander verwandt. Dass solche Ameisenkolonien nicht dahingerafft würden, wie das teilweise mit den Monokulturen auf den Getreidefeldern geschieht, sei deshalb aussergewöhnlich. Die Widerstandsfähigkeit der Ameisen erklärt sich Chapuisat damit, dass die Ameisen im Laufe von etwa 100 Millionen Jahren genügend Zeit hatten, erstaunliche Verteidigungskünste gegen Krankheitserreger zu entwickeln.

Ihn interessieren dabei vor allem die kollektiven oder sozialen Abwehrmechanismen, die auf der Zusammenarbeit verschiedener Individuen beruhen. Dass es Ameisenfriedhöfe gibt, zeige, dass Ameisen soziale Wesen seien. "Ameisen sind ziemlich zivilisiert", sagt Chapuisat. Friedhöfe setzen zum Beispiel voraus, dass Arbeiterinnen den Schutz der Kolonie über ihr eigenes Wohl stellen. Denn sie riskieren beim Kontakt mit den Toten, vom Erreger angesteckt zu werden, sorgen aber mit dem Abtransport der Kadaver dafür, dass die Pilzsporen erst ausserhalb des Ameisenbaus zur Reife gelangen.

Nadelbaumharz gegen Bakterien

Zudem besitzen Ameisen eine so genannte "soziale Immunität". Sie putzen sich nicht nur selbst, sondern helfen auch, ihre Mitbewohnerinnen und Schwestern sauber und möglichst frei von Krankheitskeimen zu halten. Die kollektive Abwehr stützt sich sogar auf die Architektur der Ameisenbauten. Vor einigen Jahren war Chapuisat aufgefallen, dass die Arbeiterinnen einiger Ameisenarten kleine Stücke gehärtetes Nadelbaumharz mit in den Bau bringen. In grösseren Ameisenhügeln kommen so bis zu 20 Kilo von dem duftenden Material zusammen, das Nadelbäume ausscheiden, um ihre Wunden zu verschliessen. Die im Harz enthaltenen Substanzen hemmen das Wachstum von Bakterien und Pilzen – nicht nur auf den Nadelbäumen, sondern auch im Ameisenbau. Mit dieser Art von kollektiver Medikation gelingt es den Insekten, ihre Brut besser vor Krankheitserregern zu schützen, wie Chapuisat mit seinem Team nachweisen konnte.

Für die neue Studie war Chapuisat mit seiner Mitarbeiterin Jessica Purcell wieder
im Wallis Ameisen sammeln. Sie besuchten 50 Ameisenbauten und entnahmen jeweils 50 Eier und Arbeiterinnen. Im Labor überliessen sie die Eier der Kolonie A der Obhut der Arbeiterinnen der Kolonie B und umgekehrt. Die Pflegerinnen hatten viel zu tun: Aus den Eiern schlüpften Larven, die sich verpuppten, bevor dann daraus
neue Arbeiterinnen hervorgingen. Auf den Rücken einiger dieser Ameisen tröpfelten
Purcell und Chapuisat die auf den Friedhöfen gesammelten Pilzsporen. Auch die
Pflegerinnen setzten sie dem Erreger aus. Dabei zeigte sich: Je resistenter die Pflegerinnen, desto resistenter waren auch die neuen Arbeiterinnen. Und diese Ähnlichkeit in der Immunität ist nicht genetisch bestimmt, denn im Experiment kamen eben Eier und Pflegerinnen aus verschiedenen Nestern und waren nicht miteinander verwandt.

"Die soziale Umwelt während der Entwicklung hat also die Resistenz der Ameisen
beeinflusst", sagt Chapuisat; Unterschiede in der Immunität könnten auf ein
spezielles Verhalten der Pflegerinnen zurückgehen oder auf verschiedene Moleküle
auf der Oberfläche der Ameisen, die "den Duft eines Ameisennests ausmachen" und
den Ameisen helfen, ihren eigenen Bau zu erkennen. Oder liegen Unterschiede in der Krankheitsresistenz an Unterschieden im "sozialen Magen" der verschiedenen Ameisenkolonien? Weil viele Arbeiterinnen einen Teil ihrer Nahrung erbrechen und
den Larven oder anderen Koloniemitgliedern geben, tauschen sie auch ihre Mikroben
aus, die bei der Abwehr von Erregern eine wichtige Rolle spielen können. "Es
gibt viele Ideen, aber zurzeit noch wenig solide Daten, die die eine oder andere Erklärung stützen würden", sagt Chapuisat.

Aus seinen Untersuchungen über kollektive Abwehrmechanismen der Ameisen
lassen sich keine Strategien zur Vermeidung von gefährlichen Epidemien unter
uns Menschen ableiten. "Unsere Forschung zielt nicht darauf ab, die Menschheit besser vor gefährlichen Erregern zu schützen", sagt Chapuisat. Mit seinem Team betreibt er Grundlagenforschung, das Interesse gilt den Mechanismen der Evolution, die die Zusammenarbeit zwischen Individuen fördern. Grundsätzlich wirken diese Mechanismen auch bei uns Menschen – wenn auch erst seit ein paar Millionen Jahren, also einem Bruchteil der Zeit, die soziale Insekten bereits zusammenarbeiten.

Ori Schipper war Wissenschaftsredaktor des SNF und arbeitet nun bei der Krebsliga Schweiz.