Die Zukunft des Lexikons

François Vallotton und Charles Andrès. © SNF

Z – das "Historische Lexikon der Schweiz" ist am Ende des Alphabets. Ist das auch das Ende des Lexikons? Macht Wikipedia die von Fachleuten geschriebenen Wissenssammlungen überflüssig? Keineswegs, findet nicht nur François Vallotton, Mitglied des Stiftungsrats des historischen Lexikons, sondern auch der langjährige Wikipedianer Charles Andrès.

Der Zufall wollte es, dass jüngst zwei Meilensteine der Lexikografie zeitlich zusammenfielen: Erstens die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegen die renommierte "Encylopedia Universalis" und zweitens die Veröffentlichung des dreizehnten und letzten Bandes des "Historischen Lexikons der Schweiz" als Abschluss eines monumentalen Projektes, das fast ein Vierteljahrhundert in Anspruch nahm und seit 1998 nicht mehr nur auf Papier, sondern auch in elektronischer Form erscheint.

Bedeutet dies, dass Enzyklopädien nur noch ein Relikt der Vergangenheit sind, weil sie durch neue Recherchemöglichkeiten über das Internet verdrängt werden? Diesen Schluss zu ziehen wäre voreilig, denn es bleibt durchaus weiterhin Platz für digitale Projekte mit hohem wissenschaftlichem Mehrwert, als Alternative, oder vielleicht eher als Ergänzung, zu partizipativen Nachschlagewerken wie Wikipedia. Dass solche Werke auch künftig ihre Berechtigung haben werden, wenn sie denn gewisse Voraussetzungen erfüllen, möchte ich am Beispiel des historischen Lexikons aufzeigen.

Die Entwicklung eines in sich geschlossenen, kontrollierten lexikografischen Konzepts, das mehr Gewicht auf Ausgewogenheit und systematische Einträge legt als auf zufällige, subjektive Erweiterungen, ist nach wie vor absolut plausibel, vor allem im Rückblick. Ein zweites Argument betrifft die Optionen zum Recherchieren und Gruppieren von Informationen. Das Nachschlagen beschränkt sich hier nicht wie bei den meisten Online-Fachwörterbüchern auf eine Volltextsuche. Vielfältige Funktionen zur Indexierung und Semantisierung werden sich künftig als unverzichtbare Werkzeuge erweisen. Ebenso müssen Links zu gewissen Referenzdatenbanken in den jeweiligen Fachbereichen gewährleistet werden. Schliesslich herrscht zwar Einigkeit darüber, dass Multimedia-Konzepte attraktiv sind, sie müssen aber Gelegenheit bieten, mit der Vorherrschaft des Textes über Bild und Ton zu brechen. Audiovisuelle Elemente dürfen nicht auf eine blosse Illustration des gedruckten Textes reduziert werden, sondern müssen ebenso wie der Text einen Beitrag zum lexikografischen Gesamtkonzept leisten.

Vor dieser Herausforderung steht auch das neue Projekt des "Historischen Lexikons der Schweiz", das derzeit in enger Verbindung mit der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften ausgearbeitet wird. Es bietet ein spannendes Labor für die gesamte Historik-Gemeinschaft und eine Chance, eine jahrhundertealte schweizerische Tradition weiterzuführen.

François Vallotton ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Lausanne und Mitglied des Stiftungsrates des "Historischen Lexikons der Schweiz". Vallotton ist auf die Geschichte des Verlagswesens und der Medien spezialisiert.

Die Zukunft des Lexikons

Im Allgemeinen wird lexikalisches Wissen mit dem Anfangsstadium des Spracherwerbs assoziiert, beispielsweise mit einem heranwachsenden Kind, das versucht, mit den Personen in seinem Umfeld zu kommunizieren. Doch das Wissen um die Bedeutung einzelner Wörter spielt auch in der Erwachsenenwelt eine Rolle, etwa wenn jemand eine Arbeitsstelle in einem Land annimmt, dessen Sprache er nicht beherrscht. Die Rolle des lexikalischen Wissens besteht somit darin, die Menschen in die Lage zu versetzen, Gegenstände und Konzepte zu identifizieren und darüber zu kommunizieren. Neu ist nicht lexikalisches Wissen an sich, sondern dass es weltweit gespeist und verbreitet wird.

Im Lauf der Geschichte existierten zwei Formen von Wissen nebeneinander: Fachwissen und Allgemeinwissen. Das Fachwissen wird von den Gelehrten definiert und ist absolut in dem Sinne von "dies ist die Bezeichnung für das", während das Allgemeinwissen im Alltag dominiert und sich dem Bedarf anpasst. Das lexikalische Wissen wird somit von Fachleuten festgelegt und in Wörterbüchern niedergeschrieben, es wird aber auch auf der Strasse verwendet von Menschen, die sich nicht unbedingt darum kümmern, ob der Sinn, den sie einem Wort geben, wirklich der richtige ist.

Ende 2014 befand sich die "Encylopedia Universalis" im Insolvenzverfahren. Die Presse gibt Wikipedia die Schuld, die Enzyklopädie konkurrenziert, in Schieflage und schliesslich zum Kentern gebracht zu haben. Dies legt den Schluss nahe, dass eine partizipative Enzyklopädie ein Gegenspieler traditioneller Werke ist. Aber wird damit nicht eher das wirtschaftliche Modell dieser Werke in Frage gestellt?

Mit dem Siegeszug des Internets ist das lexikalische Wissen in das digitale Zeitalter eingetreten und mit ihm auch die Verbreitungsart. Wörterbücher und Enzyklopädien bieten nun auch Online-Versionen an, um mit der Entwicklung Schritt zu halten und eine neue Kundschaft anzusprechen. Diese Werke wurden entmaterialisiert, der Inhalt ist aber gleich geblieben, ebenso der Preis, während die Kosten um mehrere Grössenordnungen zurückgegangen sind.

Mit der Entwicklung des partizipativen Internets bieten sich den Nutzern neue Möglichkeiten. Sie können nicht nur Fragen stellen, sondern beim Surfen nun auch zum Aufbau gemeinsamer Werke wie Wikipedia beitragen. Folgende Zahlen sprechen Bände, was die Effizienz des neuen Modells angeht: Wikipedia war Ende 2014 in über 280 Sprachen mit einem Korpus von über 30 Millionen Artikeln verfügbar.

Wikipedia ist nicht als Gegenpol zum traditionellen Modell des Sammelns von lexikalischem Wissen zu sehen, sondern als Ergänzung. Durch die partizipative Dimension spielen Fach- und Allgemeinwissen zusammen. Mehrere zehntausend Artikel von Wikipedia auf Französisch, Deutsch und Italienisch zitieren das "Historische Lexikon der Schweiz" als Referenz und verweisen auf die elektronische Version des Nachlagewerks. Genau hier liegt die Zukunft solcher Nachschlagewerke: in ihrer Fähigkeit, Bestandteil des allgemeinen Netzwerks des Wissens im Internet zu werden und damit zum ersten wirklich universellen lexikalischen Korpus der Welt beizutragen.

Charles Andrès schreibt seit 2007 für Wikipedia. Der Biologe arbeitet seit 2013 für Wikimedia Schweiz.